Die Discounted Cash Flow-Analyse (DCF) ist eines der grundlegendsten Werkzeuge zur Unternehmensbewertung. Ein DCF-Modell wird typischerweise verwendet, um aus einer Cash Flow-Prognose den fairen Wert eines Unternehmens abzuleiten. Diese Prognose wird in der Regel auf Basis verschiedener Annahmen, z.B. für Umsatzwachstum und zugehörige Investitionen, EBIT-Marge, erzielbare Kapitalrendite etc. abgeleitet. Mit dem Reverse DCF Ansatz gibt es allerdings noch eine alternative Herangehensweise.
Anstatt nämlich den Unternehmenswert aus den erwarteten Cash Flows abzuleiten und diesen mit dem aktuellen Marktpreis abzugleichen, gehen wir beim Reverse DCF Modell umgekehrt vor. Wir arbeiten “rückwärts” und fragen uns ausgehend von der aktuellen Marktbewertung, auf welchen impliziten Annahmen diese eigentlich beruht.
Mit anderen Worten fragen wir, an welche Wachstumsraten etc. unser “Mr. Market” glaubt, wenn er die Aktie mit dem aktuellen Kurs bewertet. Ein großer Vorteil des Reverse DCF Ansatzes liegt also darin begründet, dass wir selbst zunächst mal keine eigenen Prognosen erstellen müssen, sondern eine einfache Einschätzung darüber treffen können, ob wir der Markteinschätzung glauben oder nicht.
In diesem Artikel möchte ich den Reverse DCF Ansatz einmal etwas genauer erläutern und anhand eines einfachen Zahlenbeispiels auf die wesentlichen Bestandteile einer Reverse DCF-Analyse eingehen.
Der Unterschied zwischen dem klassischen und dem Reverse DCF-Ansatz
Fangen wir einmal mit den generellen Unterschieden zwischen einem klassischen und einem Reverse DCF Modell an… auf einer sehr hohen Flughöhe wohlgemerkt.
Klassisches DCF-Verfahren
Nutzen wir das gewöhnliche DCF-Verfahren, dann ist der Ablauf in etwa wie folgt:
- Wir treffen Annahmen für die Entwicklung der wesentlichen Werthebel. I.W. sind das Umsatzwachstum, operative Marge, Steuersatz und Kapitaleffizienz
- Auf dieser Basis entwickeln wir eine Erwartung für die Entwicklung der zukünftigen Cash Flows
- Diese Cash Flows zinsen wir mit einem angemessenen Diskontierungszinssatz (ermittelt auf Basis des WACC bzw. der Kapitalkosten) auf den heutigen Zeitpunkt ab
Abzüglich einer ggf. vorhandenen Nettoverschuldung ergibt sich aus diesem Vorgehen der faire Wert (je Aktie) des betrachteten Unternehmens.
Reverse DCF
Bei einem Reverse DCF drehen wir den gerade beschriebenen Prozess i.W. komplett um:
- Wir gehen aus vom aktuellen Marktpreis des betrachteten Unternehmens
- Wir ermitteln, welche zukünftigen Cash Flows diesen Marktpreis rechtfertigen
Im Idealfall zeigt uns das Ergebnis auf, welche Annahmen der Markt sozusagen bereits in die Bewertung “eingebaut” hat.
Hier nochmal eine grafische Darstellung zur Illustration der Unterschiede zwischen klassischem und Reverse DCF:
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Intro: Die Mechanik eines klassischen DCF-Modells
Um zu verstehen, wie ein Reverse DCF funktioniert, schauen wir uns zunächst einmal ein stark vereinfachtes klassisches DCF-Modell an.
Im Jahr 1 erzielt das betrachtete Unternehmen einen gewissen Gewinn. Dieser Gewinn wird entsprechend der Richtlinie zur Gewinnverwendung des Unternehmens (Stichwort Kapitalallokation) folgendermaßen eingesetzt:
- Ein Teil dieses Gewinns (ermittelt mithilfe der Reinvestitionsrate) wird wieder in das Unternehmen reinvestiert, um zukünftiges Wachstum zu generieren. Das erzielbare Gewinnwachstum hängt dabei von der Rendite auf das zusätzlich investierte (“inkrementelle”) Kapital ab. Diese Kapitalrendite wird auch als ROIIC (Return on Incremental Invested Capital) oder Incremental ROCE bezeichnet
- Nicht reinvestierte Gewinne werden als Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet. Damit baut sich kein zusätzliches Cash auf der Bilanz auf
Da wir außerdem davon ausgehen, dass der Maintenance CapEx größenordnungsmäßig dem aktuellen relativen Abschreibungsniveau entspricht (dargestellt als %-Anteil vom Umsatz), kann die ausgeschüttete Dividende mit dem Free Cash Flow gleichgesetzt werden. Gleiches gilt für den FCFF und den FCFE, da wir unterstellen, dass sich das Unternehmen in diesem Beispiel ausschließlich mithilfe von Eigenkapital finanziert hat (bzw. alle Kredite bereits irgendwann in der Vergangenheit zurückgezahlt hat).
Wir unterstellen außerdem, dass die Wachstumsopportunitäten nach 15 Jahren komplett versiegen, z.B. weil der Markt grundsätzlich gesättigt ist oder der Marktanteil des Unternehmens einen nachhaltig stabiles und verteidigbares Niveau erreicht hat. Dem entsprechend werden ab Jahr 16 keine Reinvestitionen mehr getätigt. Stattdessen werden alle zukünftigen Gewinne in Form einer Dividende ausgeschüttet.
Grafisch dargestellt sieht die Ergebnisentwicklung dann ungefähr so aus:
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Der Unternehmenswert ergibt sich bekannterweise aus der Summe der abgezinsten Cash Flows bzw. in diesem Fall der abgezinsten Dividenden der einzelnen Jahre (mehr dazu könnt ihr in der Artikelreihe zur Unternehmensbewertung mittels DCF-Modell nachlesen).
Nutzen wir hier einmal ein kleines Beispiel mit ein paar konkreten Zahlenwerten:
- Nettoergebnis Jahr 1: 60 Mio. EUR (entspricht den Owner Earnings)
- Reinvestition: 25% des Nettoergebnisses, im ersten Jahr also 15 Mio. EUR
- Return auf das inkrementelle Kapital (ROIIC): 20%
- Kapitalkosten (in diesem Fall ausschließlich EK-Kosten): 10%
Die Bewertung des Unternehmens erfolgt nun in zwei Schritten. Zunächst einmal ermitteln wir das Nettoergebnis über den hier betrachteten Planungshorizont von 15 Jahren (plus Terminal Value). Beispielhaft für das Jahr 2 ergibt sich:
Nettoergebnis Jahr 2 = Nettoergebnis Jahr 1 plus Gewinnwachstum Jahr 2 = 60 Mio. EUR + 15 Mio. EUR x 20% ROIIC = 63 Mio. EUR
Das Abzinsen der einzelnen Cash Flows auf das Jahr 0 ergibt einen fairen Unternehmenswert i.H.v. ca. 750 Mio. EUR bzw. ein faires KGV bzw. P/E Ratio von ca. 12,5 (ich hoffe man kann die Zahlen noch gut erkennen):
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Abschließend können wir nun hingehen und den ermittelten fairen Wert mit der tatsächlichen Marktkapitalisierung vergleichen (oder alternativ das ermittelte faire P/E mit dem tatsächlichen Wert – in diesem Fall dem Forward P/E).
Im nächsten Schritt nutzen wir das gerade aufgezeigte Beispiel zur Illustration der Reverse DCF-Methodik.
Beispiel für eine Reverse DCF-Analyse
Beim Reverse DCF gehen wir – wie oben bereits angesprochen – umgekehrt vor: Wir nehmen den aktuellen Marktpreis (= Aktienkurs) als gegeben an und berechnen mithilfe unseres Excel-Tools, welche Kombinationen aus Reinvestitionsrate, ROIIC und Abzinsungsfaktor diesen Marktpreis rechtfertigen könnte.
Ich wiederhole nochmal kurz eine der wesentlichsten Erkenntnisse aus der Erstellung des klassischen DCF-Modells ganz explizit: Im Kern benötigen wir für eine vereinfachte klassische DCF-Bewertung nur drei Parameter:
- die Reinvestitionsrate
- die Kapitalrendite
- die Kapitalkosten
Wenn wir also zwei Parameter vorab festlegen, dann können wir den dritten einfach mathematisch ableiten.
Schauen wir uns das Ganze mit ein paar konkreten Zahlen an… und bleiben beim obigen Beispiel.
Nehmen wir einmal an, das Unternehmen wird aktuell an der Börse mit dem 25-fachen des Jahresgewinns bewertet (also mit einem P/E Ratio bzw. KGV von 25).
Die konkrete Frage dazu: Welche Annahmen bzgl. der Reinvestitionsrate und der Kapitalrendite hat der Markt in diesem Multiplikator implizit zu Grunde gelegt?
Unterstellen wir einmal die folgenden festen Modellinputs und iterieren im ersten Schritt mit unserem klassischen DCF-Modell:
- Kapitalkosten: 8%
- Reinvestitionsrate: 50% des erzielten Jahresgewinns
Nun berechnen wir den notwendigen ROIIC, um den aktuellen Bewertungsmultiplikator von 25 zu rechtfertigen:
Bei einem unterstellten ROIIC von 10% ergibt sich ein faires P/E von ca. 14 (genauer gesagt 13,9) – ein so niedrige inkrementelle Kapitalrendite würde also den aktuellen Marktpreis nicht rechtfertigen…
Bei einem ROIIC von 15% steigt des faire P/E auf 18,4 – schon substanziell höher, aber immernoch signifikant unterhalb des Marktniveaus.
Erst bei einem ROIIC von ca. 20,5% passt das faire P/E zur Marktbewertung vom 25-fachen Gewinn.
Wir können das Spiel nun beliebig weiterführen:
Wenn das Unternehmen nun nicht mehr nur 50%, sondern stattdessen 75% der erzielten Gewinne reinvestiert, reicht ein ROIIC von ca. 15,5%, um einen Multiplikator von 25 zu rechtfertigen.
Wie ihr seht, gibt es hier einen Trade-Off: Mit zunehmender Reinvestition (und Bereitschaft der Eigentümer, auf einen größeren Teil ihrer Dividenden erstmal zu verzichten) sinkt der für die Rechtfertigung eines bestimmten Multiples erforderliche ROIIC. Das liegt daran, dass das Unternehmen höhere absolute Investitionen tätigen und somit auch mit geringerem ROIIC gleich schnell wachsen kann. Hier einmal die tabellarische Aufstellung der erforderlichen inkrementellen Kapitalrendite bei verschiedenen Reinvestitionsraten:
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(Kleine Anmerkung: Die obenstehende Tabelle können wir mithilfe der Goal Seek Funktion einfach aus unserem bestehenden klassischen DCF-Modell ableiten. Eine weitergehende Anleitung findet ihr im DIY Investor Artikel zur Automatisierung von Goal Seek in Excel mit einer Zeile VBA-Code. Die Ergebnisse der Tabelle basieren außerdem auf einem konstanten Kapitalkostensatz von 8%. Auch diesen könnte man natürlich noch entsprechend “variabilisieren”.)
Die wesentliche Erkenntnis aus unserer iterativen Analyse: Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Kombinationen aus Reinvestitionsrate, Kapitalkosten und ROIIC, die zum gleichen Bewertungsniveau führen können.
Grafische Darstellung der Ergebnisse: Die Reverse DCF-Kurve
Um dieser hohen Anzahl an möglichen Kombinationen etwas besser Herr zu werden, versuchen wir einmal die Ergebnisse der Reverse DCF-Analyse anschaulich grafisch als Kurve darzustellen (ich nenne sie mal die “Reverse DCF-Kurve”).
Diese Reverse DCF-Kurve zeigt alle Kombinationen von Reinvestitionsrate (X-Achse) und ROIIC (Y-Achse), die den aktuellen Marktpreis erklären können:
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Liegen die zukünftig tatsächlich erzielten Unternehmenswerte rechts bzw. oberhalb der blauen Kurve (orangener Bereich), dann ist das Unternehmen unterbewertet. Liegen die tatsächlichen Werte links bzw. unterhalb der Kurve (blauer Bereich), ist das Unternehmen überbewertet.
Die zentrale Idee: Mithilfe des Reverse DCF-Ansatzes machen wir transparent, welche Zukunftserwartungen im aktuellen Marktpreis bzw. Aktienkurs reflektiert sind.
Wenn wir als Investoren nach unserer Analyse also davon ausgehen, dass die tatsächlichen künftigen Werte besser ausfallen werden, als die impliziten Erwartungen des Marktes glauben lassen, dann lässt sich daraus ggf. eine gute Kaufgelegenheit ableiten.
Auf der anderen Seite: Wenn die Erwartungen des Marktes zu optimistisch erscheinen, sollten wir vermutlich eher vorsichtig sein (bzw. über einen Verkauf nachdenken, wenn wir die Aktie bereits im Portfolio haben).
Unternehmensspezifische Reverse DCF-Modelle
Neben der in diesem Artikel vorgestellten eher allgemeinen Reverse DCF-Berechnung in Abhängigkeit von Reinvestitionsrate und Kapitalrendite gibt es natürlich noch unzählige weitere Möglichkeiten der Umsetzung. Im Grunde genommen können wir die Analyse mit zwei ganz beliebigen Inputgrößen unseres DCF-Modells durchführen.
Die Kunst besteht im Grunde darin, die zwei wesentlichsten Determinanten des zukünftigen Unternehmenswerts zu identifizieren… keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, wie viele verschiedene Einflussfaktoren den Unternehmensgewinn heutzutage typischerweise beeinflussen.
In Abhängigkeit von der Granularität des Modells könnten solche konkreten Werttreiber beispielsweise auch sein:
- Die Anzahl verkaufter Smartphones und das Wachstum des Service-Segments (z.B. Apple)
- Der Anteil an Elektrofahrzeugen und die relative Marge versus Verbrenner (z.B. Volkswagen)
- Die Anzahl an Filialeröffnungen in China und die generelle Margenentwicklung (z.B. Starbucks)
- Die Anzahl zahlender Abonnenten und der durchschnittliche ARPU (z.B. Netflix, Disney)
- etc. etc.
Wichtig ist allerdings wie gesagt, dass das DCF-Modell (oder ein anderes Bewertungstool) die richtige Granularität besitzt und die wesentlichen Werttreiber entsprechend als konkrete Inputvariablen überhaupt erstmal vorhanden sind.
Der wesentliche Vorteil eines unternehmensspezifischen Reverse DCF-Modells: Wir erhalten nicht nur abstrakte Zahlen und Zielwerte für ROIIC und Reinvestitionsrate, sondern ganz konkrete Markterwartungen bzgl. Absatz, Wachstum oder Profitabilität eines Unternehmens.
Bottom Line
Ein Reverse DCF-Modell kann ein mächtiges Werkzeug darstellen, um die im Aktienkurs implizit berücksichtigten Markterwartungen zu verstehen und einzuordnen.
Weitergedacht kann ein Reverse DCF-Ansatz uns Investoren also auch dabei helfen, potenzielle Unter- oder Überbewertungen zu erkennen und daraus unsere Schlüsse zu ziehen und bessere Entscheidungen zu treffen:
- Sind die Markterwartungen zu pessimistisch? Mögliche Kaufchance!
- Sind sie zu optimistisch? Möglicher Verkauf!
Oder wie Charlie Munger einmal sagte:
Invert, always invert! – Charlie Munger
Reverse DCFs sind eine perfekte Umsetzung dieses Prinzips.
Weitere Ressourcen zur DCF-Bewertung
Einordnung des Discounted Cash Flow in die DIY Investor Bewertungslogik
Financials anpassen und aktuelle Cash Flows ermitteln:
- Cash Flows und Gewinne normalisieren – So geht’s
- R&D = CapEx: So klassifizieren wir die F&E-Ausgaben um
- Operatives Leasing: Abschlüsse und Kennzahlen richtig anpassen
- Free Cash Flow to Equity (FCFE) – Die Basics
- Das ABC des Free Cash Flow to the Firm (FCFF)
- IFRS 16 im DCF-Modell richtig berücksichtigen: So geht’s
Cash Flows prognostizieren
- Weniger ist mehr: Cash Flow Prognose für die DCF-Bewertung
- DCF: CapEx und zugehörige Abschreibung konsistent ermitteln – So geht’s
- Forecast wesentlicher Bilanzpositionen im Rahmen der Unternehmensbewertung
Den Abzinsungsfaktor bestimmen
- Wie wir die Kapitalkosten bzw. den WACC bestimmen können
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- So bestimmen wir die Fremdkapitalkosten
- Capital Asset Pricing Modell (CAPM): Ein Ansatz zur Bestimmung der EK-Kosten
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- Der Wert des Wachstums: Der Discounted Cash Flow (DCF) Ansatz
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