Berechnungsmethodik Net Debt: Finanzdatenbanken versus DIY Investor

Inhalt

Wie ihr vielleicht aus eigener Erfahrung wisst, können wir aus vielen Datenbanken für die Bereitstellung von Finanzdaten (z.B. TIKR, Finbox, Morningstar – meine Liste mit Empfehlungen findet ihr hier) nicht nur Rohdaten, sondern auch die wesentlichsten berechneten Finanzkennzahlen und Ratios entnehmen. Zu den wesentlichsten dieser Ratios zählt das so genannte Financial Leverage, welches sich als Quotient aus Nettoverschuldung (“Net Debt”) und EBITDA ermitteln lässt:

Leverage Ratio = Net Debt / EBITDA

Das Ratio gibt uns als Investoren einen Anhaltspunkt hinsichtlich der finanziellen Stabilität des betrachteten Unternehmens sowie im Resultat auch über den so genannten Credit Spread, d.h. den für die Aufnahme von Fremdkapital über den risikolosen Zins hinaus zu zahlenden Zinsaufschlag (mehr Details dazu hier).

Die Nettoverschuldung ist dabei – erstmal ganz generell – definiert als die um die liquiden Vermögenswerte korrigierte Verschuldung… also die Verschuldung, die verbleibt, nachdem alle liquiden und schnell verfügbaren Finanzmittel zur Schuldentilgung aufgewendet wurden.

Die Ermittlung der Nettoverschuldung bzw. des Net Debt wird in den o.g. Datenbanken nach einer bestimmten Logik vorgenommen, welche allerdings meines Erachtens nach auf der einen Seite ggf. wesentliche Verbindlichkeiten ignoriert, auf der anderen Seite aber auch ggf. liquide Investments nicht entsprechend gegenrechnet… und nebenbei auch nicht mit der von den großen Ratingagenturen (Standard & Poor’s, Moody’s) verwendeten Methodik korrespondiert.

Aus diesem Grund möchte ich in diesem Artikel einmal auf die typische Berechnungsmethodik der Datenanbieter eingehen und anschließend die darüber hinaus erforderlichen Anpassungen skizzieren, um zu einer akkurateren Sicht auf das Net Debt zu gelangen.

Weitere Details zur Berechnungsmethodik des Net Debt findet ihr in meinem detaillierteren Artikel zur Nettofinanzverschuldung und den verwandten Kennzahlen.


Konkretes Beispiel zur Ermittlung des Net Debt

Sparen wir uns jede weitere Vorrede und steigen direkt mit einem konkreten Beispiel in der Ermittlung des Net Debt ein. Im folgenden Schaubild seht ihr die Bilanz eines realen Unternehmens für das Jahr 2023, welche ich einmal aus TIKR entnommen habe:

Beispielbilanz zur Illustration der Ermittlung der Nettoverschuldung
Beispielbilanz zur Illustration der Ermittlung des Net Debt; Quelle: TIKR

Einige wenige Kommentare dazu, bevor wir zur Ermittlung des Net Debt übergehen.

Der Übersichtlichkeit halber habe ich alle kurzfristigen Vermögenswerte mit Ausnahme des Barmittelbestandes und der kurzfristigen Investments (also Forderungen, Lagerbestände, Abgrenzungsposten etc.) in einer einzigen Position zusammengefasst. Gleiches gilt für die kurzfristigen Verbindlichkeiten (Lieferantenverbindlichkeiten, RAPs etc.) sowie das Eigenkapital.

Kurzgesagt liegt der Fokus also auf denjenigen Positionen, welche für die Ermittlung des Net Debt von Relevanz sind.


Typische Ermittlung des Net Debt (zu finden in Finanzdatenbanken)

Vielleicht einmal vorausgeschickt: TIKR, der von mir hauptsächlich genutzte Datenlieferant, gibt in der Datenbank für das betrachtete Unternehmen und das Geschäftsjahr 2023 eine Nettoverschuldung i.H.v. 361 Mio. EUR an, wie ihr dem folgenden Screenshot entnehmen könnt:

Net Debt aus der TIKR-Datenbank
Net Debt aus der TIKR-Datenbank; Quelle: TIKR

Wie kommt diese Zahl nun also genau zustande? TIKR gibt hierzu die folgende Berechnungsformel an:

Net Debt = Total Debt – Cash & Short-term Investments

Nach ebendieser Logik können wir das Net Debt i.H.v. 361 Mio. EUR wie folgt replizieren: Wir addieren zunächst die kurz- und langfristigen Finanzschulden auf (940 Mio. EUR plus 360 Mio. EUR) und erhalten eine Gesamtverschuldung (“Total Debt”) i.H.v. fast genau 1,3 Mrd. EUR. Anschließend ziehen wir den Barmittelbestand sowie die kurzfristigen Investments ab (insgesamt 940 Mio. EUR) und kommen so auf den von TIKR angegebenen Wert.

Wenn man es genau nimmt, müsste TIKR die ermittelte Kennzahl eher als “Net Financial Debt” bezeichnen und nicht als “Net Debt”, da für die Ermittlung i.W. nur die ausgewiesenen Finanzschulden berücksichtigt werden.

Hier nochmal die grafische Illustration der Berechnung:

Klassische Ermittlung des Net Debt
Klassische Ermittlung des Net Debt

Wenn wir uns allerdings die Bilanz anschauen, dann fallen ein paar Dinge quasi direkt ins Auge, nämlich insbesondere die Pensionsrückstellungen und die langfristigen Investments. Sollten diese bei der Berechnung des Net Debt nicht ggf. auch als Verbindlichkeiten bzw. liquide Investments berücksichtigt werden?

Schauen wir uns einmal an, was die bekannte Ratingagentur Standard & Poor’s dazu sagt und was sich daraus für die Kalkulation des Net Debt ergibt.


Verbesserte Ermittlung des Net Debt

Von Standard & Poor’s gibt es eine relativ detaillierte Dokumentation der Berechnungsmethodik der relevanten Credit Ratios (wozu ja insbesondere auch das bereits angesprochene Financial Leverage Ratio gehört). In der Dokumentation wird sowohl auf die Ermittlung der Gesamtverschuldung, als auch die Ermittlung der abzugsfähigen Cash-Positionen in einem eigenen Absatz eingegangen.


S&P zur Berechnung des “Adjusted Debt”

Das schreibt Standard & Poor’s zur Berücksichtigung bestimmter Verbindlichkeiten bei der Berechnung des “Adjusted Debt”:

Ermittlung Adjusted Debt Standard & Poor's

Zunächst mal sagt S&P, dass bestimmte Finanztransaktionen ggf. als schuldenähnlich zu betrachten sind (und daher bei der Ermittlung des Net Debt zu berücksichtigen), auch wenn sie vom Unternehmen nicht explizit als solche ausgewiesen werden.

Heißt kurz gesagt: Mit der Ermittlung der Nettoverschuldung nur auf Basis der ausgewiesenen Finanzschulden (so wie TIKR und viele Unternehmen es machen) greifen wir zu kurz.

Ganz konkret berücksichtigt S&P die folgenden Sachverhalte über die direkt ausgewiesenen Finanzschulden hinaus:

  • Eingegangene Verbindlichkeiten, die keinen zukünftigen betrieblichen Ausgleichsvorteil bieten (z.B. Pensionsrückstellungen und Ewigkeitslasten)
  • bilanzielle und außerbilanzielle Verpflichtungen zum Kauf oder zur Nutzung langlebiger Vermögenswerte oder Unternehmen. Hiermit sind i.W. Leasingverbindlichkeiten oder aufgeschobene Kaufpreiszahlungen gemeint
  • Beträge im Zusammenhang mit der beschleunigten Monetarisierung von Vermögenswerten anstelle einer Kreditaufnahme (z.B. durch die Verbriefung / Securitization, den Verkauf oder das Factoring von Kundenforderungen)

Im Gegensatz zu den gerade genannten Beispielen werden zukünftigen Verpflichtungen zum Kauf von Waren oder Dienstleistungen, die das Unternehmen noch nicht erhalten hat, von S&P nicht als schuldenähnlich angesehen. Dies liegt daran, dass es sich um noch zu erfüllende Verträge handelt, d.h. eine Gegenpartei muss noch eine Handlung ausführen bzw. die Vorteile des Eigentums sind dem Unternehmen noch nicht zugutegekommen.

Gleiches gilt für Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen und konzeptionell ähnliche Verbindlichkeiten, welche von S&P i.W. wie Handelskredite und daher als Teil des operativen Tagesgeschäfts betrachtet werden. Schiebt ein Unternehmen allerdings Zahlungen über die für die Lieferkette übliche Zahlungsfrist hinaus auf (z.B. über Reverse Factoring), dann sieht das Ganze wieder anders aus.

Darüber hinaus werden ausgewiesene Schulden ggf. umgekehrt von S&P wieder herausgerechnet, wenn diese als eigenkapitalähnlich eingestuft werden (wie z.B. bestimmte Gesellschafterdarlehen oder hybride Instrumente).


S&P zur Anrechnung cash-ähnlicher Positionen

Und hier die S&P-Kommentare zur Berücksichtigung bzw. Anrechnung von cash-ähnlichen Bilanzpositionen (aus der gleichen Quelle wie oben):

Berücksichtigung Cash und Investments bei der Ermittlung der Nettoverschuldung.

S&P berechnet das Net Debt abzüglich der verfügbaren Barmittel (Kassenbestand) sowie der liquiden Investments. Begründung: Ein Unternehmen, welches substantielle Barmittel und andere liquide Assets zur kurzfristigen Rückzahlung von Verbindlichkeiten auf der Bilanz hat, weist typischerweise eine höhere finanzielle Flexibilität auf, als ein Unternehmen, welches nicht über solche Assets verfügt.

Bei der Analyse der Barmittel und Investments eines Unternehmens legt S&P den Fokus auf die zwei Aspekte Zugänglichkeit und Liquidität.

Zu den verfügbaren Barmitteln gehören demnach:

  • Alle vom Unternehmen gemeldeten Barmittel und Barmitteläquivalente. Ausgenommen sind nicht verfügbare Barmittel, wie z.B. Kautionsbeträge von Kunden (welche hoffentlich auf der Bilanz als “Restricted Cash” bzw. Barmittel mit Verfügungsbeschränkung ausgewiesen sind)
  • Vom Unternehmen ausgewiesene kurzfristige Investments. Ausnahme: Die Investments sind illiquide oder nicht verfügbar
  • Langfristige Investments und andere Vermögenswerte, sofern diese verfügbar und liquide sind

Angepasste Berechnung des Net Debt

Nachdem wir nun wissen, was Standard & Poor’s zur Berücksichtigung von Schulden und cash-ähnlichen Vermögenswerten bei der Ermittlung des Net Debt zu sagen hat, schauen wir uns die relevanten Bilanzpositionen nochmal genau an:

  • Pensionsrückstellungen: Diese werden von S&P relativ klar als zu berücksichtigende Verbindlichkeiten ausgewiesen
  • Leasingverbindlichkeiten: Liegen hier nicht vor (bzw. sind nicht ausgewiesen), werden aber von TIKR bereits bei der Ermittlung des Net Debt berücksichtigt
  • Weitere Verbindlichkeiten (ggf. Off Balance Sheet): Über den Einsatz von Factoring, Reverse Factoring und ähnlichen Mitteln zur Finanzierung außerhalb der Bilanz haben wir aus der Datenbank keine Kenntnis. Daher setzen wir hier keinen bestimmten Wert an. In der Praxis sollten wir allerdings den Anhang nach entsprechenden Statements durchforsten und ggf. auch Anpassungen vornehmen
  • Cash bzw. Kassenbestand: Barmittel mit Verfügungsbeschränkung sind nicht ausgewiesen, daher besteht hier kein Anpassungsbedarf. Allerdings können die so genannten betriebsnotwendigen Barmittel, also die für die Aufrechterhaltung des Tagesgeschäfts erforderlichen Barmittel (“Operating Cash”) nicht zur Schuldentilgung herangezogen werden und sollten daher auch nicht mit den Schulden verrechnet werden. Wider besseres Wissen habe ich hier einmal 2% vom Umsatz angesetzt (entspricht ca. 216 Mio. EUR)
  • At-Equity-Beteiligungen: Das Unternehmen weist At Equity-Beteiligungen in erheblicher Höhe aus. Da eine Beteiligung nur als “At Equity” ausgewiesen werden darf, wenn das Unternehmen einen gewissen Einfluss auf Geschäftsentscheidungen nehmen kann, können wir denke ich nicht per se davon ausgehen, dass diese Beteiligungen leicht und schnell liquidiert bzw. veräußert werden können. Eine Anrechnung auf die Schulden findet also erstmal nicht statt
  • Andere langfristige Investments: Bei den anderen langfristigen Investments handelt es sich um ein Portfolio an festverzinslichen Wertpapieren (Anleihen / Bonds). Trotz der Klassifizierung als “langfristig” sind diese also sowohl verfügbar, als auch liquide und werden ergo mit den Schulden verrechnet

Aus den beschriebenen Anpassungen ergibt sich die folgende angepasste Ermittlung des Net Debt (die neuen bzw. angepassten Bestandteile habe ich zur besseren Sichtbarkeit einmal gelb umkringelt):

Ermittlung des Net Debt nach Anpassungen (DIY Investor Logik)

Wie ihr sehen könnt, hat sich die Verschuldungssituation des Unternehmens auf einmal substantiell geändert. Aus einer relativ geringen Nettoverschuldung i.H.v. 361 Mio. EUR laut TIKR-Datenbank ist ein Net Debt i.H.v. ca. 2,2 Mrd. EUR geworden. Ursächlich hierfür sind – wie nur unschwer zu erkennen – die Pensionsrückstellungen, welche für sich genommen mit ca. 1,7 Mrd. EUR zu Buche schlagen.

Dazu kommt – aufgrund der Nichtanrechnung der betriebsnotwendigen Barmittel – netto nochmal ein um ca. 200 Mio. EUR geringerer Cash-Ausweis.


Shortcuts zur Berücksichtigung von Verbindlichkeiten und Assets für die Net Debt-Berechnung

Unabhängig von der Berechnungsmethodik von TIKR oder Standard & Poor’s gibt es bzgl. der Ermittlung des Net Debt zwei wesentliche Indikatoren, anhand derer wir bestimmen können, ob eine Position bei der Ermittlung der Nettoverschuldung berücksichtigt werden sollte – oder nicht:

Verbindlichkeiten: Bzgl. der Berücksichtigung von Verbindlichkeiten sollten wir uns immer fragen, ob diese zinstragend sind (explizit oder auch implizit), oder nicht. Für die Ermittlung der Nettoverschuldung sollten wir nur zinstragende Verbindlichkeiten berücksichtigen.

Cash & Äquivalente: Bzgl. der Anrechnung von Vermögenswerten sollten wir uns analog zu Standard & Poor’s immer fragen, ob die entsprechenden Vermögenswerte sowohl verfügbar, als auch liquide sind.

Shortcuts Ermittlung Nettoverschuldung

Key Take Aways

Wenn ich mir die obige Analyse so betrachte, dann muss eine wesentliche Schlussfolgerung aus meiner Sicht lauten, dass wir die in den Finanzdatenbanken (möchte das hier nicht nur auf TIKR beschränken, in anderen wird das denke ich ebenfalls der Fall sein) hinterlegten Finanzkennzahlen und Ratios immer im Kontext betrachten und uns fragen müssen, ob die Definition der Kennzahl zu der von uns beabsichtigten Nutzung passt.

Ganz grundsätzlich mag es natürlich auch Anwendungsfälle für die Kennzahl der Nettofinanzverschuldung geben (also das Net Debt wie von TIKR et al. berechnet). Wenn wir Analysen im Hinblick auf die Schuldentragfähigkeit bzw. die finanzielle Stabilität eines Unternehmens durchführen, sollten wir allerdings wenn möglich auch diejenigen Verbindlichkeiten berücksichtigen, die ggf. auf der Bilanz nicht direkt als Schulden klassifiziert werden (zuvorderst zu nennen wären hier natürlich die Pensionsrückstellungen.

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