In meiner Reihe verschiedener Fallstudien möchte ich euch heute einmal die Lear Corporation vorstellen, eine Investment-Idee, die Richard Pzena im Jahr 2006 an der Columbia Business School vorgestellt hat. Obwohl Pzena im Grunde genommen mit seiner These nicht ganz unrecht hatte, ist das Investment schlussendlich nicht so gelaufen wie erwartet.
Diese Case Study fällt in die Kategorie “Deep Value Investment” und basiert dem entsprechend nicht auf einer Analyse der zukünftigen Wachstumsaussichten, sondern fußt eher auf der Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells und der Überreaktion des Marktes auf schlechte Nachrichten / Probleme… Ich denke der Case ist auch insofern interessant, als dass ihr ein paar gute Anregungen zum Thema Verständnis von Geschäftsmodellen und Wettbewerbsvorteilen mitnehmen könnt.
Aber steigen wir direkt ein.
Ausgangssituation: Das Geschäftsmodell der Lear Corporation
Die Lear Corporation war und ist ein Automobilzulieferer und fokussiert auf die Herstellung von Autositzen bzw. Sitzsystemen und elektrischen Systemen. Soweit, so unspektakulär.
Im Jahr 2005 nun war der Aktienkurs innerhalb kurzer Zeit vom bisherigen Hoch bei ca. 70 USD/Aktie auf knapp über 30 USD/Aktie abgerauscht und über einen Standard Screening-Prozess auf dem Radar von Richard Pzena (hier sein aktuelles Portfolio) aufgetaucht.
Investoren waren damals infolge abnehmender Produktionsmengen, insbesondere bei GM, sowie aufgrund hoher, nicht an die Kunden weiterzugebender Rohstoffkosten sehr verunsichert.
Als direkte Reaktion auf diesen Kostenanstieg hatte Lear mit den kreditgebenden Banken kurzfristig sogar eine Anpassung der in den Kreditverträgen hinterlegten Covenants verhandeln müssen (eine zeitlich befristete Anpassung der erlaubten Nettoverschuldung auf den 3,75-fachen EBITDA). In 2005, soviel war damals bereits klar, würde die Lear Corp. ein negatives operatives Ergebnis erwirtschaften.
Die Vorlesung an der Columbia Business School, in deren Rahmen Richard Pzena den Case vorstellte, fand übrigens im September 2006 statt.
Im ersten Schritt fragte er die Studenten zunächst eine einfache Frage: Handelt es sich langfristig um ein gutes oder ein schlechtes Geschäftsmodell?
Eine erste gefühlsbasierte Antwort gab er gleich selbst: Auf den ersten Blick sah das nicht nach einem guten Geschäftsmodell bzw. einer besonders attraktiven Nische aus. Warum? Weil es sich bei Autositzen eher um Standardprodukte (“Commodities”) ohne große Differenzierungsmerkmale handelte.
Richard Pzena hat allerdings aus der Vergangenheit gelernt, dass es sich lohnen kann, etwas genauer und ggf. auch mehrmals hinzuschauen. Aus diesem Grund stellte er doch nochmal eine tabellarische Übersicht der Vor- und Nachteile des Geschäfts zusammen (die kurzfristig relevanten Punkte sind natürlich vor dem zeitlichen Kontext zu sehen):
Die einzelnen Aspekte ging er dann einmal im Schnelldurchlauf mit den Studenten durch, immer mit den folgenden zwei Fragen im Hinterkopf:
- Welche der dargestellten Charakteristika sind langfristige bzw. allgemein gültige Charakteristika des Unternehmens und der Märkte, in denen es im Wettbewerb steht?
- Welche Charakteristika sind eher kurzfristiger Natur und repräsentieren unter Umständen nicht wiederkehrende Ausnahmeerscheinungen?
Die im Markt bestehende Überkapazität war natürlich nicht besonders positiv zu sehen. Sollte es aber konkrete Bestrebungen der Player geben, Kapazitäten aus dem Markt zu nehmen (d.h. auf Business-Deutsch die Kapazitäten zu “rationalisieren”), dann könnte das mittel- bis langfristig das Marktumfeld verbessern und wie ein Katalysator auf die Aktienkurse wirken.
Gleichzeitig war die Abhängigkeit von den großen US-amerikanischen OEMs signifikant. Allein GM und Ford waren offenbar für mehr als 40% der Umsätze der Lear Corporation verantwortlich. Darüber hinaus war Lear in starkem Maße auch von bestimmten SUV-Modellen abhängig, was an der besonderen Vertragsgestaltung lag. Die Lear Corporation hatte nämlich ihre Verträge – im Gegensatz zu Johnson Controls – auf einer “Model für Modell-Basis” abgeschlossen.
Auf der anderen Seite bot sich das Geschäft aufgrund der positiven Skaleneffekte und des gleichzeitig nicht zu hohen Anspruchsniveaus für das Outsourcing durch die OEMs sehr gut an. Stand 2005 hatten die großen nordamerikanischen OEMs (die Original Equipment Manufacturers, also GM, Ford, Chrysler etc.) bereits ca. 90% der Sitzherstellung an Zulieferer, i.W. Lear Corp. und Johnson Controls, ausgelagert. In Europa waren es allerdings zum damaligen Zeitpunkt erst ca. 65%, in Asien – damals übrigens ganz generell mit hohen Wachstumsraten in der Autoproduktion – hatte mit Toyota der größte Player gerade erst mit dem Outsourcing begonnen.
Es gab also durchaus noch ein paar Triggerpunkte für ein mögliches Wachstum nach vorne heraus.
Lear hatte außerdem ein flexibles und kostengünstiges Geschäftsmodell. Obwohl die Belegschaft gewerkschaftlich organisiert war, hatte Lear grundsätzlich die Möglichkeit, Arbeiter kurzfristig zu entlassen und auch Standorte zu schließen (in den USA gibt es keine mit dem deutschen Recht vergleichbaren Kündigungsschutzregeln).
Eine erste Schlussfolgerung aus den bisher betrachteten Eigenschaften des Geschäftsmodells könnte also lauten (und das hat auch Richard Pzena so kommuniziert): Die Richtung ist nicht ganz klar. Das Geschäftsmodell scheint sowohl vorteilhafte wie auch nachteilige Charakteristika zu besitzen.
Ein Blick auf operative Margen und Kapitalrenditen
Trotzdem sprachen die historischen Zahlen – speziell ist hier die Rendite auf das tangible investierte Kapital gemeint – eine etwas andere, deutlichere Sprache:
Return on Invested Tangible Capital (ROITC) Lear Corporation [%]; Quelle: Vorlesung Richard Pzena
Tatsächlich hatte die Lear Corporation quasi in jedem der knapp 10 Jahre bis 2003 eine Kapitalrendite (ohne die Berücksichtigung des Goodwill auf der Bilanz) von mindestens 20% erreicht… für einen Automobilzulieferer sehr beachtlich. In vielen Jahren lag der ROITC sogar oberhalb der 30%-Marke.
Gleichzeitig war das Geschäft charakterisiert durch sehr geringe operative Margen, was auf den vergleichsweise geringen Bedarf sowohl nach Working Capital als auch nach Produktionsequipment zurückzuführen war… und das trotz Just-in-Time Belieferung innerhalb von drei Stunden nach Bestellung / Abruf.
In diesem Zusammenhang erinnerte Richard Pzena die Studenten nochmal an eine wesentliche Regel: Wenn die Kapitalrendite eines Unternehmens über einen langen Zeitraum höher ist als seine Kapitalkosten , ist dies meist ein Hinweis auf einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil bzw. ein gutes und stabiles Geschäftsmodell (und natürlich auf die Generierung von Shareholder Value).
Welche Faktoren waren also ursächlich für diese offenbar strukturell sehr starke Positionierung in einem quasi Commodity-Markt?
Laut Richard Pzena lies sich die Attraktivität des Geschäftsmodells schlussendlich auf die vorhandene Oligopolstruktur sowie die hohen Wechselbarrieren auf Kundenseite zurückführen:
- Oligopolstruktur: Wie bereits oben angemerkt gab es im Markt für Autositze nur zwei ernstzunehmende Wettbewerber, Johnson Controls und Lear Corp. Beide operierten vermutlich mit einer ähnlichen Kostenstruktur und gaben auf dieser Basis ihre Angebote rational ab (ließen sich also nicht auf einen ruinösen Preiskampf ein, um jeden Auftrag zu gewinnen)
- Wechselbarrieren: Die OEMs stellen an die Zulieferer hohe Anforderungen bzgl. der logistischen Abläufe und der kurzfristigen Lieferfähigkeit. Viele Teile müssen Just-in-Time (JIT), manche sogar Just-in-Sequence (JIS, also quasi bis ans Fließband), bereitgestellt werden. Aus diesem Grund waren und sind die OEMs sehr zögerlich (vorsichtig ausgedrückt), einen Liefervertrag für eine gesamte Modellreihe an einen neuen und unbekannten Anbieter zu vergeben. Andererseits wussten die OEMs aufgrund der langjährig bestehenden Geschäftsbeziehungen bereits um die Zuverlässigkeit bzw. Prozesssicherheit der großen Zulieferer Lear und Johnson Controls
Bei jeder neuen Auftragsvergabe durch die OEMs kam also quasi einer dieser beiden Anbieter als Alleinlieferant über den gesamten Produktionszeitraum eines Fahrzeugmodells zum Zuge (ein solcher Zyklus dauert ca. 5-7 Jahre). Daran hatte auch das Wachstum der vergangenen Jahre nichts geändert.
Ursachen für die kurzfristigen Probleme
Die wesentliche Frage, die sich also stellte, war diejenige nach der Nachhaltigkeit bzw. langfristigen Relevanz der aktuellen Problembereiche. Im Grunde genommen gab es da zwei Möglichkeiten:
- Es handelte sich um ein vorübergehendes Themen und Lear würde nach kurzer Zeit wieder Gewinne verzeichnen können
- Das Geschäftsmodell war tatsächlich doch eher anfällig und das Unternehmen dadurch akut gefährdet
Bzgl. der Probleme in 2005 fokussierte sich Richard Pzena vor allem auf das zum damaligen Zeitpunkt dominierende Thema: Die hohen Rohstoffpreise und die zukünftige Vertragsgestaltung mit GM, Ford und Co.
(Teilweise) variable und steigende Rohstoffkosten im Einkauf, Festpreise auf der Abnehmerseite – so konnte man das damalige Kernproblem vermutlich ganz gut beschreiben. Laut Richard Pzenas Einschätzung ein vorübergehendes Problem, da die Verträge in regelmäßigen Abständen (in der Regel jährlich) neu verhandelt werden mussten und die Preise in dem Zuge unter Berücksichtigung des aktuellen Rohstoffpreisniveaus (oder darüber hinaus… je nach dem, wie gut verhandelt wurde) angepasst werden konnten.
Zusätzlich verfolgte Lear damals eine aktive Diversifizierungsstrategie mit einem Fokus auf den wachsenden asiatischen Markt und auf weniger preissensitive OEMs.
Exkurs: Vertragsbestandteile
Solche Verhandlungen / Verträge berücksichtigen typischerweise mehrere Aspekte. Unter anderem regelmäßig das Folgende:
- Preisanpassungsklauseln: Die OEMs verlangen regelmäßig eine Preisreduzierung, z.B. 5% pro Jahr. Dies wird durch die Zulieferer in vielen Fällen über eine Anpassung des Produkts ermöglicht. Um beim Beispiel Lear Corp. bzw. Autositze zu bleiben: Das Obermaterial ist dann vielleicht zukünftig nicht mehr zu 100% aus Leder, sondern auch teilweise aus Kunststoff
- Rohstoffanhänger: Obwohl oft nicht direkt als variabler Preisbestandteil im Vertrag verankert, werden die aktuellen Rohstoffkosten bei den Verhandlungen meist als Anker- bzw. Aufsatzpunkt verwendet
Schlussendlich waren beide Vertragsparteien aufeinander angewiesen, sodass auch die Verhandlungsergebnisse des Vorjahres typischerweise irgendwo berücksichtigt werden sollten (nach dem Motto: “Letztes Jahr hast hast du wirklich einen großen Vorteil gehabt. Das solltest du uns in diesem Jahr jedenfalls teilweise zurückgeben.”).
Pzena sah zwar einige weitere Risiken, ging auf diese allerdings nicht weiter im Detail ein, vermutlich weil er sie zum damaligen Zeitpunkt als recht unwahrscheinlich ansah:
- Mögliche Insolvenz von GM oder Ford: Insolvenzen unter den großen US-OEMs lagen für Pzena zwar im Bereich des Möglichen, sollten aber schlussendlich keine (größeren) Auswirkungen auf die Automobilproduktion haben (“Even if GM & Ford go bankrupt, they will still make cars.”)
- Steigende Zinsen: Steigende Zinsen könnte die Kauflaune der Konsumenten schwächen und OEMs wie Zulieferern stark zusetzen
Richard Pzenas Schlussfolgerung: Die Margen müssten eigentlich besser sein, da sich die Fundamentaldaten grundsätzlich nicht verschlechtert hatten und Lear (und auch Johnson Controls) aufgrund der Marktstruktur (Oligopol) eine gute Verhandlungsposition haben sollten. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer größeren Rezession bzw. einer OEM-Insolvenz schätzte er als gering ein (bzw. ging nicht näher darauf ein).
Fokus auf die lange Frist: Überschlägige Bewertung
Insofern sollte sich der intrinsische Wert der Lear-Aktie aus den langfristigen Fundamentaldaten ableiten lassen. Hier einmal die wesentlichen Annahmen, die Richard Pzena seiner damaligen Bewertung zugrunde legte:
- Umsatzschätzung: Relativ stabil bei ca. 16,5 bis 17 Mrd. USD bei leicht steigender Automobilproduktion (ca. 1% in den Vorjahren) sowie stabilen Marktanteilen. Dies war aufgrund des Wachstums in Asien sowie des weiter zunehmenden Outsourcings durch die OEMs eine recht konservative Schätzung
- Operative Marge: Zurück auf den Durchschnittswert der vergangenen zwei, drei Jahre, also ca. 5,0 bis 5,5% (Pzena setzte ca. den Durchschnitt von ca. 5,3% an). Aufgrund der schlechten Ausgangssituation und der Marktmacht der Zulieferer durchaus nicht unrealistisch
Aus diesen beiden Annahmen leitete sich ein operativer Gewinn von ca. 900 Mio. USD ab (= 17 Mrd. USD Umsatz x 5,3% operative Marge). Korrigiert um Zinszahlungen (~170 Mio. USD) und Einkommensteuern (~240 Mio. USD bzw. 33% des Vorsteuerrgewinns) sollte sich ein Nettogewinn von ca. 490 Mio. USD oder ungefähr 7,3 USD je Aktie ergeben… zum damaligen Zeitpunkt waren ca. 67 Mio. Aktien im Umlauf.
Weiterhin nahm Pzena noch einen Abschlag auf den Ergebnisbeitrag des strukturell schwachen Interior Segments in Höhe von ca. 15% vor (obwohl sich 15% meiner Einschätzung nach auf den Umsatzanteil bezog und das Segment selbst vermutlich gar keinen positiven EBIT erwirtschaftete).
Seine Einschätzung der Performance des Interior Segments basierte auf der folgenden Mitteilung seitens der Lear Corporation, die Pzena mit “Das Interior Segment ist im Grunde genommen wertlos.” übersetzte:
Aus dem Form 8-K vom 19. September 2005 (Section 2 – Financial Information Item 2.06 Material Impairments)
[…] As previously disclosed, in conjunction with Lear’s restructuring program, the Company is continuing to evaluate strategic alternatives with respect to its Interior segment. This segment continues to experience unfavorable operating results, primarily as a result of higher raw material costs, lower production volumes on key platforms, industry overcapacity, insufficient customer pricing and changes in certain customers’ sourcing strategies.Based on the foregoing, Lear concluded on September 19, 2005, that the Interior segment’s goodwill has been materially impaired. At this time, Lear is unable to make a good-faith estimate of the amount or range of amounts of the impairment charge. […]
Hier nochmal eine kurze tabellarische Zusammenfassung der einfachen Bewertungslogik von Richard Pzena:
Wie ihr sehen könnt, lag das implizite KGV bei Annahme einer Rückkehr zur Durchschnittsperformance beim ca. 5,5-fachen, was als recht günstig bezeichnet werden konnte. Richard Pzena nannte im Rahmen der Columbia-Vorlesung ein faires KGV von ca. 10-14.
Selbst wenn die Rückkehr auf das normalisierte Gewinnniveau über einen Zeitraum von ca. zwei bis drei Jahren von statten gehen sollte, entspräche das immernoch einer FCF-Generierung über 5 Jahre von ca. ~2 Mrd. USD. Ein Betrag, der sowohl eine signifikante Schuldentilgung ermöglichen, als auch ein substantielles Aktienrückkaufprogramm ermöglichen sollte.
Unter der Annahme, dass ca. 1 Mrd. USD für Aktienrückkäufe zur Verfügung stehen würden, könnte sich die Aktienanzahl so gut wie halbieren (zu einem Kurs von 33 USD/Aktie könnten ca. 33 Mio. Aktien zurückgekauft werden), was im Umkehrschluss eine Verdopplung des EPS nach sich ziehen würde.
Nur zur weiteren Erläuterung: Das Net Debt / EBITDA bzw. Financial Leverage Ratio hing recht stark von der Geschwindigkeit des Rebounds ab. Würde sich das EBITDA schnell normalisieren und der Free Cash Flow auf einen Wert oberhalb der Nulllinie klettern, dann müssten keine weiteren Schulden aufgenommen werden und das Ratio würde sich quasi wie von selbst verbessern (auch aufgrund des höheren EBITDA, der ja im Nenner der Gleichung steht). Wenn allerdings umgekehrt die Normalisierung zu lange dauerte, würde sich die Verschuldung aufgrund des negativen Cash Flows weiter erhöhen, was am Ende sogar in einer Insolvenz münden könnte.
Schlussfolgerungen von Richard Pzena in 2005
Richard Pzena sah also selbst mit den sehr konservativen Annahmen – kein Top Line Wachstum, keine Margenverbesserung, kein Ausstieg aus dem unattraktiven Interior-Geschäft – mindestens die Chance auf eine Verdopplung des Aktienkurses.
Nahm man die mögliche Multipleaufweitung und das EPS-Wachstum zusammen, dann hätte man im optimistischen Szenario sogar eine Vervierfachung über einen Zeitraum von 3-5 Jahren erwarten können:
Wie ging es nach 2005/06 mit der Lear Corp. weiter?
Nach der Analyse von Richard Pzena im September 2005 ging der Aktienkurs nochmal weiter runter. Der Nettoverlust des Unternehmens in 2006 belief sich auf mehr als 700 Mio. USD.
In 2006 einigte sich Lear dann allerdings mit dem US-Investor Wilbur Ross (später unter Donald Trump US-Handelsminister) bzw. dessen International Automotive Components Group auf einen Verkauf der nordamerikanischen Interior Division.
Anschließend setzte eine Erholung ein und im Jahr 2007 kletterte die Bruttomarge trotz eines 10%igen Umsatzrückgangs wieder zurück auf ein Niveau von über 8%, was ungefähr der historischen Größenordnung entsprach und Lear wieder den Ausweis eines Gewinns ermöglichte:
Umsatz- und Margenentwicklung Lear Corp.; Quelle: Finbox
Die von Richard Pzena im Jahr 2005 bzw. 2006 erwartete Entwicklung schien sich also zu materialisieren, was sich allerdings noch nicht im Aktienkurs niederschlug.
Unter anderem vermutlich deshalb bot Carl Icahn Mitte 2007 ca. 2,9 Mrd. USD oder 37,25 USD/Aktie für eine Komplettübernahme der Lear Corporation. Nach dem Announcement stieg der Aktienkurs bis auf über 38 USD/Aktie an, so hoch wie seit eben jenem September 2005, dem Datum der ersten Analyse von Richard Pzena, nicht mehr.
Icahns Übernahmeangebot scheiterte schlussendlich allerdings… und zwar vor allem daran, dass sich Pzena – mit einem Anteil von ca. 8% größter Shareholder von Lear – gegen die Übernahme aussprach. Dies stellte sich im Nachhinein als Fehler heraus.
Denn anstatt die Erholung weiter fortzusetzen, wurden bald die ersten Anzeichen der aufkommenden Weltfinanzkrise sichtbar. Bereits in 2007 ging der Umsatz der Lear Corp. um mehr als 10% zurück. In 2008 und 2009 dann nochmal um weitere ca. 15% bzw. 30%. Zu diesem Zeitpunkt brach auch die Bruttomarge trotz signifikanter Kostensenkungsmaßnahmen wieder bis auf ca. 5% ein, was bis 2009 einen signifikanten Anstieg des Financial Leverage auf den über 6-fachen EBITDA zur Folge hatte:
Entwicklung des Financial Leverage der Lear Corporation; Quelle: Finbox
Dies wurde nun auch im Aktienkurs deutlich sichtbar. Bis Oktober 2008 hatte die Lear-Aktie mehr als 90% ihres Wertes eingebüßt und handelte nur noch bei ca. 3 USD/Aktie. Die Investoren hatten also die bevorstehende Insolvenz bereits so gut wie eingepreist.
Im Juli 2009 schließlich musste Lear tatsächlich Insolvenz nach Chapter 11 anmelden, weil die Verschuldung mit ca. 3,6 Mrd. USD nicht mehr zu handhaben war (die Covenants waren zu dem Zeitpunkt bereits wieder gerissen, der Kontokorrentkredit (Revolver) i.H.v. 1,2 Mrd. USD vollständig ausgeschöpft). Die Insolvenz war damit quasi eine direkte Folge der Insolvenzen von GM und Chrysler ein paar Monate zuvor.
Im Zuge der Insolvenz wurde die Lear Corporation im Juli 2009 von der Börse genommen und die Aktien eingezogen. Die Altaktionäre büßten damit quasi ihren Anteil am Geschäft ein.
Ein Teil der vorhandenen Schulden wurde anschließend im Zuge der Reorganisation in ca. 34 Mio. neue Aktien sowie ca. 8 Mio. Bezugsrechte umgewandelt, sodass die Lear Corporation mit neuer Eigentümerstruktur im November 2009 ein zweites Börsendebüt feiern konnte. Ein anderer Teil wurde in neue Darlehen überführt. Auf diese Weise konnte Lear die Verschuldung in Summe um ~2,8 Mrd. USD reduzieren und wies zwischenzeitlich sogar eine Netto-Cash-Position (d.h. Barmittel > Schulden) aus.
Wie man an der Entwicklung nach 2009 sehen kann, ist das Geschäftsmodell von Lear nach wie vor intakt. Die Bruttomargen bewegen sich seitdem konsistent auf einem Niveau jenseits der 8%-Marke, die Nettoverschuldung weit unterhalb der kritischen Marke des ca. 3,5-fachen EBITDA. Der Aktienkurs erreichte jüngst einen Wert von über 150 USD/Aktie (ca. 5x seit 2009)… ob die Banken wohl bis heute als Eigentümer mit an Bord sind?
Key Take Aways
Was sind nun meine Schlussfolgerungen aus diesem Case… im Grunde genommen und in einem Satz zusammengefasst: Richard Pzena hat die grundlegenden Treiber des Geschäftsmodells der Lear Corporation größtenteils richtig analysiert und herausgearbeitet. Seine Investment Thesis war also durchaus nicht falsch. Unter Umständen (wir wissen nicht, wann und ob Pzena tatsächlich ausgestiegen ist) hat er aber trotzdem einen Totalverlust erlitten.
Meine weiteren Take Aways aus dieser Fallstudie:
- Niedrige operative Margen bedeuten nicht zwangsläufig auch unattraktive Economics. Auf das eingesetzte Kapital bzw. die Kapitalintensität kommt es an
- Auch auf den ersten Blick unattraktive Geschäftsmodelle mit Standardprodukten können einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil besitzen
- Wir sollten die bilanziellen Risiken nicht unterschätzen. Globale Nachfrageschocks können selbst stabile Geschäftsmodelle ins Wanken bringen, wenn die Bilanz zu stark geleveraged oder die Abhängigkeit von einzelnen Kunden oder Segmenten zu groß ist. Deshalb sollten wir immer auch auf die Verschuldung schauen und auf die relevanten Grenzwerte (hinterlegte Covenants, z.B. Net Debt / EBITDA oder Interest Cover) achten.