Das in meinem ersten Artikel zum CLTV und den Customer Acquisition Cost (CAC) verwendete Beispiel “Börsenbrief” war natürlich insofern etwas konstruiert, als dass es auf einer ganzen Reihe an (fiktiven) Annahmen basierte. In der Realität müssen wir uns typischerweise mit den Informationen zufrieden geben, die uns das Unternehmen im Rahmen seiner Pflichtveröffentlichungen (Geschäftsberichte, Investorpräsentationen etc.) zur Verfügung stellt. Aus diesem Grund habe ich einmal versucht, mir ein Bild über den CLTV und die CAC für die Firma flatex zu machen.
Die Ergebnisse dieser Analyse stelle ich euch in diesem Artikel einmal vor und hoffe damit auch die Relevanz der CLTV-Betrachtung ganz gut illustrieren zu können.
Für ein paar theoretische Grundlagen zum Thema Customer Lifetime Value und Customer Acquisition Cost schaut auch übrigens ggf. zuerst den einführenden Artikel Der CLTV und die Profitabilität von Geschäftsmodellen an.
Ausgangspunkt der CLTV-Berechnung: Daten der flatex AG
Die flatex AG ist, wie ihr vielleicht wisst, einer der profitabelsten deutschen Online-Broker und ist laut eigener Aussage nun als erster auch grenzüberschreitend tätig. Aufgrund der proprietären Handelsplattform (und der damit verbundenen White Label Lösungen für Dritte) profitiert flatex in hohem Maße von positiven Skaleneffekten.
Der mit Abstand größte Geschäftsbereich von flatex ist nun das B2C-Brokergeschäft mit den Marken flatex und ViTrade (und in Zukunft Degiro). Auf eben dieses bezieht sich nun auch die vorliegende Analyse des LTV.
Hier einmal die für die Ermittlung des CLTV und der CAC relevanten Kennzahlen für das FIN-Segment (Quelle ist der Geschäftsbericht 2019):
Kennzahlen flatex 2018 und 2019; Quelle: flatex Geschäftsbericht 2019
Bevor ich in die CLTV-Betrachtung einsteige, noch ein paar Kommentare bzw. Hinweise zu den Zahlen:
- Der gezeigte Umsatz beinhaltet neben den Provisionen (ca. 90 Mio. EUR) auch die Zinseinnahmen (ca. 15 Mio. EUR), die flatex über die Vergabe von Wertpapierkrediten etc. mit den Kunden generiert
- Die Werbekosten beziehen sich auf die gesamte flatex AG, ich gehe aber davon aus, dass diese größtenteils auf das Brokerage-Geschäft entfallen
- Die Anzahl gewonnener Neukunden in den zwei Geschäftsjahren habe ich aus dem Fließtext des Geschäftsberichts entnommen
- Die operativen Kosten beinhalten nicht die Abschreibungen und wurden darüber hinaus um die Werbekosten reduziert. Je Transaktion ausgedrückt decken sich die Kosten nicht mit den in der Investorpräsentation angegebenen Costs per Trade (CPT) von 1,44 EUR (vermutlich handelt es sich da nur um die tatsächlichen IT-seitigen Kosten)
- Zusätzlich zu den dargestellten operativen Kosten bis zum EBITDA können wir ggf. noch Abschreibungen i.H.v. ca. 35 EUR/Kunde zusätzlich berücksichtigen
Wie ihr der Tabelle nun entnehmen könnt, ist der operative Gewinn je Kunde von ca. 110 auf ca. 90 EUR zurückgegangen , was vermutlich hauptsächlich mit der geringeren Anzahl an Transaktionen der Neukunden zu tun hat.
Gleichzeitig haben sich die Customer Acquisition Cost um ca. 50% auf ca. 150 EUR/Kunde erhöht. In der Investorpräsentation ist von <100 EUR die Rede, wobei die Differenz möglicherweise dadurch erklärt werden kann, dass ein Teil der Werbekosten nicht primär für die Neukundengewinnung aufgewendet wurde. Mehr zum Thema Customer Acquisition Cost findet ihr im CAC Deep Dive weiter unten.
Kundenlebensdauer und Churn Rate
Was bei einer etwas detaillierteren Betrachtung der obigen Zahlen direkt ins Auge fällt: Trotz der Verschlechterung der Kennzahlen in 2019 deckt der Ertrag je Kunde für ein einzelnes Jahr bereits mehr als 50% der durchschnittlichen Kundenakquisitionskosten ab (92 EUR / 152 EUR). Im Jahr 2018 waren es sogar noch mehr als 100%, was auf einen hohen Anteil an organischer Kundengewinnung schließen lässt.
Die durchschnittliche Kundenlebensdauer ist allerdings vermutlich um einiges länger als ein Jahr, wie ihr der folgenden groben Rechnung entnehmen könnt:
Abschätzung der durchschnittlichen Kundenlebensdauer; Quelle der Rohdaten: Investorpräsentation der flatex AG
Wie ihr seht, besteht das Kundenportfolio zu ca. 62% aus Kunden, die flatex bereits seit mehr als drei Jahren die Treue halten. Zwar hat sich der Anteil versus 2014 leicht verringert (damals betrug er noch 67%). Trotzdem würde ich die Relationen einmal als recht stabil einschätzen.
Wenn wir nun einmal annehmen, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Kunden mit einer “Tenure” von weniger als einem Jahr und zwischen einem und drei Jahren jeweils gut durch den jeweiligen Mittelwert (also 0,5 und 2 Jahre) repräsentiert wird, und außerdem davon ausgehen, dass die Langzeitkunden flatex für mindestens 10 Jahre lang treu bleiben, dann erhalten wir eine durchschnittliche Kundenlebensdauer von fast 7 Jahren.
Durchschnittliche Kundenlebensdauer = 11% x 0,5 Jahre + 27% x 2 Jahre + 62% x 10 Jahre
Sollte der Langzeitkunde im Durchschnitt bereits nach ca. 5 Jahren kündigen, läge die Lebensdauer immer noch bei mehr als 3,5 Jahren (bzw. die Churn Rate bei ca. 25%).
Ich habe allerdings Grund zu der Annahme, dass es hier bestimmte Wechselbarrieren gibt, die dafür sorgen, dass die Kunden im Durchschnitt weitaus länger an Bord bleiben. Wie ich selbst einmal feststellen musste, sind Portfolioübertragungen manchmal doch recht kompliziert und zeitintensiv sowie die Umgewöhnung an eine neue Benutzeroberfläche nicht unbedingt erstrebenswert.
Darüber hinaus kann flatex aufgrund der günstigen Kostenposition im Zweifel auch an der Preisschraube drehen, um die Kunden längerfristiger zu halten (für eine Übersicht der wesentlichen Interdependenzen sei wieder auf den einführenden DIY Investor Artikel zum CLTV verwiesen).
Barwert der Erträge
Wenn wir wieder von einem Kapitalkostensatz von 10% ausgehen, dann ermittelt sich der Barwert der Cash Flows über die gesamte durchschnittliche Kundenlebensdauer – vereinfacht habe ich hier mit ca. 7 Jahren gerechnet – zu ca. 449 EUR/Kunde:
Bei einer Lebensdauer von 3,5 Jahren wären es immer noch ca. 260 EUR/Kunde, also weitaus mehr als die initialen Kosten der Kundenakquisition.
Im Zweifel ist Kunde allerdings nicht gleich Kunde, weshalb wir uns die Relationen (Customer Lifetime Value sowie auch Customer Acquisition Cost) speziell für die Gruppe der Neukunden noch einmal etwas genauer ansehen sollten.
Customer Acquisition Cost (CAC) flatex
Bzgl. der Customer Acquisition Cost bietet das Beispiel flatex gleich mehrere interessante Aspekte. Zum einen können wir an der kürzlichen Entwicklung glaube ich gut den Trade-Off zwischen den Kundenakquisitionskosten und der Qualität der Kunden ausmachen. Zum anderen bietet der Vergleich mit dem Wettbewerb ein paar interessante Einblicke in die potenziellen Wettbewerbsvorteile von flatex.
Auf Ersteres möchte ich nun einmal etwas detaillierter eingehen.
Wie wir an den Zahlen erkennen können, hat sich die Anzahl der Transaktionen in 2019 um mehr als 20% verringert (natürlich mit direktem Einfluss auf den operativen Gewinn), während sich die Customer Acquisition Cost im gleichen Zeitraum um mehr als 50% erhöht haben:
Entwicklung Transaktionen je Kunde und CAC; Quelle: Geschäftsberichte der flatex AG
Im Jahr 2019 hat flatex also über verhältnismäßig teure Marketing-Maßnahmen zwar mehr als 80.000 Neukunden gewonnen. Die Anzahl an Transaktionen ist allerdings quasi unverändert geblieben (und ergo die Zahl an Transaktionen je Kunde stark zurückgegangen).
Dies spricht dafür, dass die – mithilfe eines aggressiven Marketings – neu akquirierten Kunden für flatex tatsächlich einen durchaus viel geringeren Wert haben (also von schlechterer Qualität sind), als die bereits existierenden Kunden.
Die höheren CAC hängen vermutlich mit dem in 2019 vollzogenen Markteintritt in den Niederlanden zusammen, wo – das können wir jedenfalls auf der Habenseite entsprechend vermerken – natürlich zunächst einmal eine gewisse Markenbekanntheit aufgebaut werden musste bzw. muss. Wenn ich mich recht erinnere, wurden die Neukunden außerdem mit einem “Ein Jahr lang Traden für Null EUR” Angebot gelockt, was sich negativ sowohl auf den Umsatz im laufenden als auch auf die Abwanderungsquote im nächsten Geschäftsjahr auswirken sollte.
Customer Lifetime Value
Wie aus den obigen Berechnungen leicht ersichtlich wird, liegt der aktuelle Customer Lifetime Value für das Brokerage-Geschäft der flatex AG bei fast 300 EUR je Kunde (unter Berücksichtigung der Abschreibungen bei ca. 265 EUR):
CLTV = Barwert der Erträge – CAC = 449 – 152 = 297 EUR/Kunde
Das heißt mit anderen Worten: flatex könnte sich noch weitaus höhere Customer Acquisition Cost leisten, ohne unprofitabel zu werden. Allerdings basiert dieser Wert auf den Unit Economics eines durchschnittlichen Kunden, der im Schnitt 33 Transaktionen pro Jahr durchführt.
LTV versus CAC: Geringere Erträge mit Neukunden
Würden wir nun einmal annehmen, dass die in 2018 bereits existierenden ca. 290.000 Kunden nach wie vor ungefähr 43 Trades pro Jahr durchführen (auf Basis der historischen Werte aus meiner Sicht kein so schlechter Proxy), dann ergäbe sich für die Anzahl an Transaktionen der teuer akquirierten Neukunden nur ein Wert von 3! Und selbst wenn sich die Anzahl Trades der Bestandskunden von 2018 auf 2019 ebenfalls reduziert haben sollte: Es besteht eine durchaus nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass die Neukunden viel weniger einbringen werden, als die Bestandkunden.
Entwicklung Transaktionen je Kunde; Quelle: Geschäftsberichte der flatex AG
Ganz äquivalent könnten wir den EBITDA bzw. den operativen Gewinn für einen entsprechenden Neukunden abschätzen… unter der Annahme konstanter Margen läge dieser unterhalb der 10 EUR Marke (bei angenommenen 10 Transaktionen immernoch unter 30 EUR). Das heißt, die neu hinzugewonnenen Kunden müssten flatex schon mindestens für 5 bis 15 Jahre lang treu bleiben, um mit Customer Acquisition Cost von 150 EUR je Kunde überhaupt profitabel zu werden (ohne den Ansatz irgendwelcher Kapitalkosten bzw. Hurdle Rates).
Allerdings gibt es noch ein paar mögliche Effekte, die diese Relationen beeinflussen könnten und deshalb noch weiter untersucht werden müssten:
- Die Profitabilität der Kunden hängt auch vom Produktmix ab. Es könnte natürlich sein, dass die akquirierten Neukunden anteilig viel häufiger ETPs (Exchange Traded Products) und weniger Aktien und Anleihen handeln und deshalb höhere Erträge je Transaktion erwirtschaften
- Mit zunehmender Bekanntheit der Marke flatex in den Niederlanden könnten die CAC wieder sinken, weil der Anteil organisch gewonnener Kunden wieder zunimmt
- Diese organisch gewonnenen Kunden könnten im Vergleich wieder attraktiver für flatex sein (mit anderen Worten also öfter handeln) – die Frage ist hier allerdings, inwieweit flatex damit Kunden von seiner zweiten in den Niederlanden aktiven Marke (nämlich Degiro) abwerben wird?
- Bei einem substantiellen Kundenwachstum könnte die operative Marge aufgrund der Skalierbarkeit des Geschäftsmodells weiter ansteigen
Summa summarum eine ganze Reihe an Faktoren, die das Ergebnis nochmal signifikant positiv beeinflussen könnten. Stellt sich die Frage: Wie das Ganze noch weiter substantiieren? Zum einen könnte vermutlich der nächste Halbjahresbericht bzw. Geschäftsbericht ein paar zusätzliche Hinweise darüber geben, wie sich Kundenumsätze, Transaktionen und Abwanderungsquote weiter entwickeln. Zum anderen könnte u.U. auch Investor Relations dabei helfen, einige der Annahmen noch weiter zu erhärten.
Fazit CLTV und Customer Acquisition Cost flatex
Wie ihr seht lässt sich das Konzept der Customer Lifetime Value und der Customer Acquisition Cost durchaus auch auf reale börsennotierte Firmen anwenden.
Das gute an diesem Ansatz ist aus meiner Sicht, dass wir mithilfe des CLTV bzw. der CAC insbesondere das mit aggressivem Marketing “erkaufte” Kundenwachstum vieler Wachstumsunternehmen einmal hinterfragen können.
Aufgrund der engen Korrelation zur inkrementellen Kapitalrendite (Return On Incremental Invested Capital bzw. ROIIC) sind darüber hinaus auch Rückschlüsse auf die zukünftige Kapitaleffizienz möglich (ein wesentlicher Input / Check für unser Bewertungs– bzw. DCF-Modell).
Bzgl. des Wachstums von flatex: Das Unternehmen konnte historisch auf Basis eines außerordentlich attraktiven CLTV wachsen. Die initialen Kundenakquisitionskosten (Customer Acquisition Cost) konnten bereits nach ein bis zwei Jahren wieder eingespielt werden, obwohl die Kundenlebensdauer ein Vielfaches dessen betrug.
Für die in der jüngsten Vergangenheit in den Niederlanden akquirierten Kunden erscheint die Profitabilität allerdings weitaus geringer auszufallen (bzw. unter Umständen sogar negativ zu sein)… wobei dieser Umstand vermutlich noch für einige Zeit in den durchaus noch attraktiven Durchschnittswerten verschwimmen wird. Darüber hinaus werden erst die nächsten Halbjahres- bzw. Jahresberichte mehr Aufschluss darüber geben, wie sich die Zahlen wirklich entwickeln.