Value Investing hat viele Facetten. Es gibt eine Reihe von Ansätzen und jeder Investor hat seine eigenen Kriterien. Diejenigen, die sich wirklich mit Unternehmen befassen, die am Rande des Bankrotts stehen, schauen sich immer auch den so genannten Liquidationswert an. Das heißt den Wert, den wir noch bekommen würden, wenn das Unternehmen nach Schließung in Einzelteilen verkauft wird. Sozusagen die Untergrenze des Unternehmenswerts. So viel sollte eine Aktie mindestens wert sein. Der von Ben Graham entwickelte und in seinem Buch “The Intelligent Investor” beschriebene Net Net bzw. NCAV-Ansatz basiert auf genau diesem Liquidationswert.
It always seemed, and still seems, ridiculously simple to say that if one can acquire a diversified group of common stocks at a price less than the applicable net current assets alone-after deducting all prior claims, and counting as zero the fixed and other assets-the results should be quite satisfactory.”
– Benjamin Graham, The Intelligent Investor, 1973
Im folgenden möchte ich einmal etwas detaillierter auf die Net Net Strategie eingehen und Berechnungsmethodik, Erfolgsfaktoren etc. erklären.
Was du in diesem Artikel lernst
- Was eine Net Net Aktie genau ist
- Warum Net Net Aktien so günstig sind bzw. wo wir sie finden
- Wie wir mit Net Net Aktien erfolgreich sein können
- Welche Returns wir typischerweise mit Net Nets erzielen können
- Wie wir am besten mit dem Net Net Investing starten
Was genau ist eine Net Net Aktie?
Der Buchwert – Eine erste Annäherung für den Liquidationswert
Jeder, der sich schonmal etwas mit dem Thema Value Investing befasst hat, wird das Kurs-Buchwert-Verhältnis als Kennzahl kennen. Ein niedriges Kurs-Buchwert-Verhältnis, genauer gesagt ein Kurs-Buchwert-Verhältnis von kleiner 1, deutet auf eine Aktie hin, die im Vergleich zu den Vermögenswerten des Unternehmens günstig zu haben ist. Der Buchwert kann in der Bilanz als der Wert des Eigenkapitals direkt abgelesen werden.
Im Liquidationsfall ist es aber nicht immer so, dass die vorhandenen Vermögenswerte zu dem Wert verkauft werden können, der in den Büchern steht. In den meisten Fällen müssen Investoren hier noch mit einem signifikanten Abschlag rechnen, z.B. weil Vorräte veraltet sind oder Produktionsanlagen in Wirklichkeit nur noch Schrottwert besitzen (ganz zu schweigen von potenziellen Renaturierungskosten etc.).
Hier gibts eine kleine Einführung in den Jahresabschluss und die wichtigsten Kennzahlen
Der Net Current Asset Value (NCAV)
Eine Net Net Aktie ist nun eine Aktie, die so günstig ist, dass der Aktienkurs sogar unter dem so genannten Net Current Asset Value (NCAV) liegt.
Der NCAV ist im Wesentlichen der Buchwert nochmal um die langfristigen Vermögenswerte (Sachanlagen etc.) verringert:
NCAV = Net Working Capital – Langfristige Schulden – Off Balance Sheet Verpflichtungen – Vorzugsaktien
oder
NCAV = Buchwert (Eigenkapital) – Langfristige Vermögenswerte (Anlagevermögen)
wobei
Net Working Capital = Umlaufvermögen – Kurzfristige Schulden
Der NCAV ist also eine konservativere Abschätzung des Liquidationswertes als der Buchwert.
Als Benjamin Graham in den 1930er Jahren seine Investment Strategie entwickelte, fand er heraus, dass der NCAV eine gute Annäherung für den realen Liquidationswert einer Firma war:
- Akquisitionen gesamter Unternehmen durch Dritte fanden ungefähr zum NCAV statt
- Der Verkauf von bankrotten Unternehmen in Einzelteilen erlöste in vielen Fällen ca. den NCAV
Das heißt also, dass die zusätzliche Abschreibung auf den Buchwert, die Investoren hinnehmen mussten, ca. der Höhe der langfristigen Vermögenswerte entsprach.
Das Net Net Working Capital (NNWC) – Der konservativste Liquidationswert
Allerdings ist auch bei den kurzfristigen Vermögenswerten eine volle Realisierung des Wertes nicht immer möglich. Es gibt deshalb eine noch konservativere Abschätzung des Liquidationswertes, das so genannte Net Net Working Capital (NNWC). Für die Berechnung des NNWC werden auch die kurzfristigen Vermögenswerte nochmal mit Abschlägen belegt.
Es wird z.B. in der Regel angenommen, dass nur ca. 75% der offenen Forderungen noch eingetrieben werden können und dass ca. 50% des Lagerbestandes nicht mehr abverkauft werden kann.
Hier die typischen Realisierungswerte des Umlaufvermögens:
- Cash und Cash Äquivalente: 90-100%
- Kurzfristige Anlagen / Finanzanlagen: 90-100%
- Forderungen aus Lieferungen & Leistungen: 75%
- Lagerbestände: 50%
- Geleistete Vorauszahlungen: 25%
- Ertragssteueransprüche (Deferred Taxes): 0%
Warum sind Net Nets so günstig bzw. gibt es solche Aktien überhaupt?
Wenn eine Aktie unterhalb des NCAV, also unterhalb des Liquidationswerts gehandelt wird, dann hat das zugehörige Unternehmen typischerweise große Probleme und der Markt glaubt nicht mehr, dass das Unternehmen in dieser Form überlebensfähig ist.
Die Probleme treffen oft den Kern des Unternehmens, z.B. wenn der Umsatz des wichtigsten Produkts durch eine disruptive Veränderung des Marktumfeldes oder durch den Eintritt eines neuen Wettbewerbers auf einen Bruchteil zusammengeschmolzen ist. Umsatzeinbrüche von 90% sind in solchen Fällen nicht untypisch.
Die wenigsten würden in eine solche Firma investieren. Und diejenigen, die bereits Anteile besitzen werden diese höchstwahrscheinlich am liebsten loswerden wollen.
Tatsächlich gibt es aber solche und solche Net Net Aktien. Wenn eine Firma sich in einer kritischen Situation befindet, aber ansonsten ein hohes Umlaufvermögen und geringe Schulden hat, dann könnte sie für Value Investoren interessant sein.
Die Investment Strategie von Ben Graham basiert ja auch auf einer Analyse der Vermögenswerte und nicht der Gewinne. Obwohl Graham Net Net Aktien favorisierte, die positive Gewinne hatten und eine Dividende zahlten.
Wenn der Einstiegspreis also niedrig genug ist, dann sollte es für das Investment auch keine Rolle spielen, ob das Unternehmen am Ende eigenständig bleibt, verkauft oder sogar abgewickelt werden muss.
Drei Wege, um mit Net Net Aktien erfolgreich zu sein
Dem entsprechend gibt es drei Wege, um mit Net Net Aktien erfolgreich zu sein:
- Liquidation
- Verkauf an einen Investor
- Erholung des Geschäfts
Gegebenenfalls gibt es noch einen vierten Weg, nämlich eine Steigerung des Aktienkurses durch positive Neuigkeiten. Die Kurse von in Not geratenen Unternehmen reagieren nämlich typischerweise sehr sensitiv auf positive wie auch negative Nachrichten. So kann es sein, dass der Aktienkurs nur aufgrund einer kleinen positiven Neuigkeit (z.B. das Unternehmen verhandelt mit einem potenziellen Investor über eine Übernahme) durch die Decke geht.
Wahrscheinlich haben viele Investoren in solchen Fällen die Aktie aufgrund der vielen negativen Nachrichten eigentlich schon abgeschrieben, sehen aber dann bei positiven News auf einmal die Möglichkeit eines großen Returns und steigen überhastet wieder ein. Ein weiterer Grund wird natürlich auch die typischerweise geringe Liquidität solcher Aktien sein.
Liquidation
Wenn ein Unternehmen keine alternativen Produkte hat, die es schnell ausbauen kann und auch ansonsten wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage besteht, dann kann eine Liquidation eine echte und reale Option darstellen.
Im Falle einer Liquidation verkauft typischerweise ein Insolvenzverwalter die Vermögenswerte des Unternehmens und gibt die Verkaufserlöse direkt an die Aktionäre weiter. Zunächst müssen allerdings in der Regel die Gläubiger (Banken und andere Institutionen, denen das Unternehmen Geld schuldet) bedient werden. Es gibt auch Fälle, in denen nur Teile eines Unternehmens liquidiert werden.
Auch wenn der Ansatz von Ben Graham auf einer Analyse des Liquidationswerts beruht, sind solche Liquidationen in der Realität recht selten.
Verkauf
Viel wahrscheinlicher ist es, dass das Unternehmen von einem anderen, in der Regel größeren und finanziell stabilen Unternehmen aufgekauft wird. Denn die meisten Unternehmen haben irgendetwas, irgendeinen Vermögenswert, der für andere Firmen von Wert ist – eine Marke, einen Zugang zum Kunden, Patente, eine Immobilie etc.
Und weil der Aktienkurs einer Net Net Aktie so niedrig ist, wird eine Gesamtübernahme für einen Investor bzw. Wettbewerber zu einer attraktiven Option.
Erholung des Geschäfts
Natürlich ist auch die Erholung des Geschäfts eine Option.
Warren Buffett sagt zwar, dass Turnarounds in der Regel nicht erfolgreich sind (“Turnarounds seldom turn”). Bei Net Nets glaubt er aber, dass in ca. 30-50% der Fälle eine signifikante Verbesserung des Geschäfts gelingt.
Typische Returns beim Net Net Investing
Returns mit Net Net Aktien können sehr attraktiv sein, wenn wir es denn richtig machen und eine ausreichende Sicherheitsmarge berücksichtigen. Grundsätzlich reißt sich der gemeine Investor nämlich nicht gerade um Net Net Aktien. Das heißt in diesem Feld gibt es erstmal wenig Wettbewerb und dadurch die Chance, einen Wettbewerbsvorteil durch unsere Analyse zu erhalten (“And who doesn’t know this?”).
Wir müssen die Net Net Aktien natürlich auch erstmal finden. Net Nets sind grundsätzlich rar. Aber dazu später mehr.
Es gibt ein paar Studien, die nahe legen, dass mit der Grahamschen Net Net Strategie ein Return von ca. 15% über Markt erreicht werden kann. Bei einer durchschnittlichen Marktrendite von ca. 10% wären das ca. 25%.
Returns von Net Net bzw. NCAV Strategien aus verschiedenen Studien
Hier eine Kurzfassung der Ergebnisse:
Eigene Studien von Ben Graham (1956)
Graham selbst nutzte den Net Net Ansatz in seiner Investment Firma Graham-Newman Corporation bis 1956. Graham gab einmal zu Protokoll, dass er mit der Strategie im Durchschnitt eine Rendite von 20% über einen Zeitraum von 30 Jahren erwirtschaftet hätte.
Nach 1956 wurden NCAV-Aktien allerdings so rar, dass es erstmal keine belegbaren Resultate mehr gab.
Oppenheimer (1986)
Oppenheimer analysierte die Returns von NCAV-Aktien über einen Zeitraum von 12 Jahren (1970-1982) und verglich die Returns mit einem Small Cap Index.
Laut seiner Studie schlug die Net Net Strategie den Index in 9 von 13 Jahren und erreichte ein durchschnittliches jährliches Wachstum (CAGR) von 31%. Aus einem USD, der in 1970 nach der Net Net Strategie investiert wurde, wurden bis 1982 fast 26 USD (für den Small Cap Index als Vergleich nur ca. 10 USD).
Greenblatt, Pzena, Newburg (1981)
Joel Greenblatt schaute sich die Performance von Net Net Aktien ebenfalls an. Über einen Zeitraum von 6 Jahren (1972-1978) analysierte er mit seinen Kollegen vier verschiedene Portfolios:
- Erstes Portfolio: Preis < NCAV
- Zweites Portfolio: Preis < 85% NCAV
- Drittes Portfolio: Preis < NCAV, P/E < 5
- Viertes Portfolio: Preis < 85% NCAV, P/E < 5
Das Ergebnis ist auch als die “originale” Zauberformel (Magic Formula) bekannt und war der erste Versuch Greenblatt’s, eine auf dem NCAV Ansatz von Ben Graham basierende Strategie zu entwickeln.
Hier zu Greenblatt’s heutiger Börsen Zauberformel
Portfolio 4 performte über den betrachteten Zeitraum am besten und erreichte eine Rendite (nach Steuern und Kommissionen) von ~29% p.a.
James Montier (2008)
Auch James Montier von GMO wollte einmal die Net Net Strategie testen. Im Jahr 2008 schaute er sich die Performance von Net Net Aktien in den USA, Japan und Großbritannien für den Zeitraum zwischen 1985 und 2007 an.
Das Ergebnis spricht klar für die Net Net Strategie. Im Durchschnitt hätte ein Investor über den gesamten Zeitraum eine Rendite von ca. 35% p.a. erzielt.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Studien (z.B. von Carlisle oder Xiao), die alle relativ ähnliche Resultate, nämlich eine signifikante Outperformance des Marktes durch Net Net Aktien zeigen.
Warum die Net Net Strategie nicht so weit verbreitet ist
Wenn die Net Net Strategie aber nun so attraktive Returns verspricht, warum wird sie dann nicht von viel mehr Investoren genutzt und viel mehr auch durch die Börsenpresse gepusht? Gute Frage.
Längere Durststrecken sind die Regel
Der erste Teil der Antwort hierauf ist aus meiner Sicht recht simpel und trifft nicht nur auf das Net Net Investing, sondern auch auf das Value Investing im Allgemeinen zu: Die Strategie funktioniert nicht immer und es kann auch mal längere Perioden geben, in denen wir mit einer solchen Strategie schlechter abschneiden, als der Markt.
Wichtig ist, dass wir drei Punkte im Hinterkopf behalten:
- Auch die besten Analysten (diejenigen mit dem besten Track Record und den besten Returns) liegen nur in maximal zwei von drei Fällen richtig – dies wurde u.a. von Tweedy Browne in einer empirischen Studie analysiert
- Investoren haben oft einen recht kurzfristigen Zeithorizont und erwarten schnelle und sichtbare Ergebnisse (Short-Termism)
- Das NCAV Portfolio sollte ausreichend diversifiziert sein. Ein bis zwei Net Net Aktien reichen hier nicht aus, da die Returns sehr große Schwankungsbreiten zeigen und nur im Durchschnitt die angestrebten ~25% erreicht werden. Eine gute Diversifizierung können wir typischerweise schon mit ca. 10 Aktien erreichen, Ben Graham hatte damals mehr als 100 im Portfolio
Wollen wir also wirklich erfolgreich in Net Nets investieren, dann müssen wir emotional in der Lage sein, auch längere Durststrecken auszuhalten.
Net Nets sind schwer zu finden
Der zweite Teil der Antwort betrifft die Verfügbarkeit und das Auffinden von Net Net Aktien. Net Nets sind recht schwer zu finden, meistens sind es so genannte Micro Caps, also Aktien mit einer Marktkapitalisierung von unter 300 Mio. USD, die noch dazu nur sehr selten gehandelt werden, also sehr illiquide sind.
Das verschafft uns als privaten Value Investoren zwar einen Vorteil, weil viele größere und institutionelle Investoren gar nicht in diese Aktien investieren dürfen (oft liegt die Mindest-Marktkapitalisierung bei 1 Mrd. USD oder mehr). Auf der anderen Seite sind aber gerade illiquide Titel auch recht schwer zu handeln. Die Aktie darf natürlich nicht so illiquide sein, dass wir sie gar nicht verkauft bekommen.
Wenn wir ausreichend viele Net Net Aktien finden wollen, dann müssen wir uns wahrscheinlich auch auf Märkte wie die USA (der größte Aktienmarkt weltweit) oder z.B. UK einlassen. In Japan scheint es ebenfalls Net Net Optionen zu geben, hier sehe ich aber eine große Unsicherheit bzgl. der Finanzdaten etc. (Sprachbarriere).
Loslegen und Net Net Aktien auswählen
Wie legen wir also am besten los mit dem Net Net Investing?
Zunächst mal würden wir eine ausreichende Sicherheitsmarge (Margin of Safety) berücksichtigen. 50% des NCAV scheint hier ein guter Wert zu sein, Ben Graham’s Anspruch war damals bei ca. 2/3 des NCAV.
Um sicherzugehen, dass wir nur die besten Net Nets ins Portfolio nehmen, sollten wir außerdem ein paar weitere Kriterien anlegen, z.B. ein P/E < 10, niedrige Schulden, oder wachsende Gewinne – was die Auffindbarkeit von guten Investments natürlich nicht gerade erhöht… dafür aber die Erfolgswahrscheinlichkeit.
Sofern wir keinen entsprechenden Screen nutzen können oder Zugang zu einem Service haben, der regelmäßig Net Net Aktien veröffentlicht (z.B. Manual of Ideas), ist die beste Alternative aus meiner Sicht ein Vor-Screening mithilfe des Kurs-Buchwert-Verhältnisses (sollte maximal bei 0,5 liegen) gefolgt von einer genaueren Betrachtung der Bilanz.
Alternativ können wir Aktien auswählen, die einen neuen 52-Wochen-Tiefstand erreicht haben und z.B. ggü. dem Hoch um mehr als 50% gefallen sind und uns anschließend den NCAV berechnen.
Excel Tool zum Download
Um die Berechnung des NCAV (und auch des NNWC) zu vereinfachen, habe ich einmal ein einfaches Excel-Tool gebaut, welches ihr direkt herunterladen könnt, wenn ihr auf den Link unten klickt.
Referenzen
- Oppenheimer Studie
- Greenblatt Studie “The Original Magic Formula”
- James Montier Studie (im Buch Value Investing: Tools and Techniques for Intelligent Investment)
1 Kommentar zu „Net Net Investing – Ben Graham Style“
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