Enron Case Study Teil 1: Anreize des Managements und Unternehmenskultur

Inhalt

Enron Case Study

Über Enron kann man eine ganze Menge schreiben… und tatsächlich ist im Laufe der Zeit auch schon viel über Enron geschrieben worden. Die Insolvenz von Enron aufgrund zu aggressiver Accounting-Praktiken ist vermutlich immernoch der größte Bilanzskandal aller Zeiten. Insofern kann der Fall Enron auch sehr gut zur Illustration bestimmter, grenzwertiger Bilanzierungstechniken genutzt werden.

Dieser Artikel ist nun der erste Teil einer etwas längeren Case Study zum Thema Enron… weil so vielschichtig, versuche ich die einzelnen Accounting-Themen relativ unabhängig voneinander zu betrachten… und soweit möglich auch mit konkreten Zahlen und Analysen zu hinterlegen.

Beginnen möchte ich in diesem Artikel mit dem Anreizsystem von Enron, welches die Protagonisten (CEO Ken Lay, COO Jeff Skilling, CFO Andrew Fastow und andere Topmanager) ja schlussendlich unter anderem dazu verleitet haben dürfte, die Zahlen zu manipulieren. Dazu kam ein gesunden Maß an Selbstüberschätzung und eine auf die kurzfristige Gewinnoptimierung und die Maximierung von Eigeninteressen abgestellte Unternehmenskultur. Auf diese beiden Punkte möchte ich in diesem Artikel ebenfalls eingehen.

Wobei: Die ausufernden und nebenbei dann auch illegalen Bilanzmanipulationen Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre werden zum großen Teil auch deshalb notwendig geworden sein, weil sich die gegen Anfang der 1990er Jahre begonnene Aushöhlung der Bilanz anders nicht mehr geheim halten ließ.


Background Enron

Enron, oder genauer gesagt die Enron Corporation, war ein US-amerikanisches Energieunternehmen mit Sitz in Houston, Texas. Ursprünglich vor allem mit dem Transport von Erdgas in Nordamerika befasst, erweiterte Enron über die Jahre das Portfolio in Richtung Energie- und Commodityhandel (Metalle, Pulp & Paper, Wasser) sowie zeitweise auch in Richtung Breitband-Internet (Enron Broadband). Insbesondere die Entwicklung eines liquiden Handelsmarktes für Erdgas ist zu einem erheblichen Teil auf die frühen Aktivitäten von Enron zurückzuführen.

Enron entstand im Jahr 1985 durch den Merger der zwei Gasnetzbetreiber Houston Natural Gas und InterNorth. Erster CEO und wenn man so will “Gründer” von Enron war der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Houston Natural Gas, Kenneth Lay.

Das Unglück nahm seinen Lauf, nachdem Lay mit Jeff Skilling im Jahr 1990 einen ehemaligen McKinsey-Partner zum Chef für das gerade entstehende Gastrading-Geschäft ernannte und dieser fast unmittelbar nach seiner Einstellung das so genannte Mark-to-Market Accounting bei Enron einführte (Enron war damals das erste US-Unternehmen überhaupt, das diese Regel anwandte).

In den Folgejahren entwickelte sich eine Unternehmenskultur, die insbesondere auf Wachstum und “Dealmaking” ausgerichtet war und in der hochrangige Mitarbeiter auch für das Abschließen schlechter Deals attraktiv entlohnt wurden. Durch das Mark-to-Market Accounting war es nämlich möglich, auch mit schlechten, d.h. langfristig verlustbringenden Deals oder Projekten einen kurzfristigen Umsatz- und Gewinnanstieg zu realisieren… was sich wiederum sehr positiv auf den Aktienkurs auswirkte, da die Wall Street – wie wir ja alle wissen – mit ihren ganzen Quartalsprognosen und Konsensschätzungen seit jeher eine gewisse Kurzfristorientierung hat. 🙂

Leider nutzte die Führungsriege von Enron diese Möglichkeit des Earnings Management vielleicht etwas zu intensiv zur “Pflege” des Aktienkurses, ohne sich großartig Gedanken über die langfristigen, negativen Auswirkungen zu machen (insbesondere die fehlenden positiven Cash Flows aus den Projekten).

Ganz nach dem Motto “We’ll cross that bridge when we get there” mussten über die Zeit immer umfangreichere Maßnahmen ergriffen werden, um die aus den verlustbringenden Geschäften resultierenden negativen Cash Flows und Schulden vor Investoren und Analysten geheim zu halten… ein “Zurück auf Start” mit allen negativen Konsequenzen für das Unternehmen am Kapitalmarkt war zu dem Zeitpunkt offenbar für keinen der Protagonisten eine echte Option.

Diese Maßnahmen bestanden i.W. darin, einen Teil der Schulden über so genannte Special Purpose Entities (SPEs) in Strukturen außerhalb der Bilanz zu überführen, was gleichzeitig den Ausweis eines Gewinns sowie auch eines positiven operativen Cash Flows ermöglichte (mehr dazu später). Ideengeber für die Installation dieser Zweckgesellschaften war der damalige CFO Andrew Fastow, der sich über die Konstrukte außerdem persönlich um mehr als 30 Mio. USD bereicherte.

Im Jahr 2000, also ca. ein Jahr vor der Insolvenz, erzielte Enron (angeblich) einem Gesamtumsatz von ca. 100 Mrd. USD und beschäftigte ca. 26.000 Mitarbeiter. Enron wurde von der Wall Street vor allem aufgrund des sehr stabilen und gut prognostizierbaren Wachstums gefeiert und von Fortune sechs mal hintereinander zu “America’s Most Innovative Company” gekürt.

Am 31. Dezember 2000 lag der Kurs der Enron-Aktie etwas über 80 USD, was einer Marktkapitalisierung von über 60 Mrd. USD sowie einem KGV von ca. 70 entsprach (der langfristige Durchschnitt des S&P 500 liegt irgendwo in der Größenordnung von 16). Der Kapitalmarkt ging zu dem Zeitpunkt also davon aus, dass das Unternehmen die hohen Wachstumsraten noch für eine sehr lange Zeit aufrechterhalten würde.


Zweifel an den Enron-Zahlen bereits vor 2001

Wie bei vielen anderen Bilanzskandalen auch, gab es auch schon in den Jahren vor dem Kollaps gewisse Zweifel einzelner Personen an der Richtigkeit der Enron-Zahlen.

Z.B. berichtete die Journalistin Toni Mack bereits im Mai 1993 in einem Forbes-Artikel mit dem Titel “Hidden Risks” kritisch über das von Skilling eingeführte Mark-to-Market Accounting.

Im Oktober 1999 berichtete die New York Times über die gescheiterten Fusionsgespräche zwischen Enron und der deutschen VEBA AG (wenig später gingen VEBA und VIAG in der neuen E.ON auf). VEBA brach die Gespräche damals bereits nach einer kurzen ersten Analysephase unter Hinweis auf die hohe außerbilanzielle Verschuldung und andere aggressive Bilanzierungspraktiken ab. Der von der VEBA engagierte Berater PriceWaterhouseCoopers hatte sich wohl zwei Wochen lang ausschließlich mit den öffentlich verfügbaren Enron-Zahlen beschäftigt (eine Due Diligence o.Ä. hatte bisher noch nicht stattgefunden).

Im September 2000 griff das Wall Street Journal das Thema Mark-to-Market Accounting in Bezug auf die großen US-Energiehandelshäuser Enron, Dynergy, El Paso etc. wieder auf (Link zum Artikel), was in Jim Chanos einen ersten bekannten Short Seller auf den Plan rief.


2001: Historie der letzten Monate bis zum Enron-Kollaps

Ab Anfang 2001 überschlugen sich dann die Ereignisse, im Grunde genommen ausgelöst durch einen kritischen Artikel im Fortune Magazine mit dem Titel “Is Enron Overpriced?”. Aber lest selbst.

12. Februar 2001: Jeff Skilling wird Vorstandsvorsitzender von Enron und löst Kenneth Lay ab.

Februar 2001: Auf einem Investorenseminar in Houston taxiert Skilling den Wert der Enron-Aktie auf 126 USD je Aktie. Dabei berücksichtigt er das verlustbringende Breitbandgeschäft mit ca. 40 USD je Aktie (entspricht in etwa 35 Mrd. USD) und das unattraktive Retail-Geschäft (Energy Services) auf ca. 23 USD je Aktie.

Februar / März 2001: Im Fortune-Artikel “Is Enron Overpriced?” geht die Journalistin Bethany McLean auf die Accounting-Praktiken von Enron ein und bezeichnet die Firma als “weitgehend undurchdringliches” Unternehmen, das immer mehr Schulden aufbaut und die Wall Street darüber i.W. bewusst im Unklaren lässt. An dem Tag geht die Enron-Aktie mit einem Kurs von ca. 75 USD je Aktie aus dem Handel.

Firtune Artikel - Is Enron Overpriced?

Bethany McLean: Is Enron Overpriced?; Quelle: Fortune Magazin März 2001

Was McLean außerdem aufdeckte bzw. publik machte: Enron hatte ca. 3.500 Tochtergesellschaften, verbundene Unternehmen etc. und war an mehreren Zweckgesellschaften (Special Purpose Entities) mit beteiligt. CFO Fastow war geschäftsführendes Mitglied von mindestens dreien dieser Gesellschaften.

In den Marketingmaterialien der SPEs war laut McLean u.a. das folgende Statement zu finden:

The Enron board of directors has waived ‘Code of Conduct’ for Fastow’s activities relative to the SPE.

Der Vorstand und / oder der Verwaltungsrat von Enron wusste also mutmaßlich über die Aktivitäten bzgl. der SPEs sowie auch potenziellen Interessenkonflikt von Fastow (Fastow war CFO von Enron und gleichzeitig Geschäftsführer mehrerer wesentlicher “Related Parties“) Bescheid.

17. April 2001: Während des Q1 Earnings Calls wird Skilling vom Hedge-Fonds-Manager Richard Grubman (Highfields Capital Management) nach den Vermögens- und Schuldenständen am Quartalsende (also i.W. nach der Bilanz) gefragt. Als Skilling ausweichend reagiert, kommt es zu einer verbalen Auseinandersetzung, an deren Ende Skilling Grubman als “Asshole” bezeichnet.

(Anmerkung: Enron veröffentlichte damals am Tag des Earnings Calls nur eine Pressemitteilung inkl. GuV, allerdings keine Bilanz. Der eigentliche Quartalsbericht wurde erst ca. einen Monat später veröffentlicht.)

Mai 2001: Enrons Q1-Report weist weiterhin eine undurchsichtige und komplexe Finanzberichterstattung auf, insbesondere im Hinblick auf die Transaktionen mit verbundenen Parteien (“Related Parties“) bzw. Zweckgesellschaften (SPEs).

Kommentar des Short Sellers Jim Chanos damals:

We read the SPE disclosure over and over and over again and we just didn’t understand it—and we read footnotes for a living. – Jim Chanos, Kynikos Associates

Darüber hinaus schien Enron nach wie vor – trotz Drängens von Investoren und Analysten – keine zusätzlichen Details offenlegen zu wollen. Als Begründung verwies Enron regelmäßig auf das Thema Vertraulichkeit von Geschäftsgeheimnissen.

14. August 2001: Jeff Skilling tritt (für alle überraschend) mit sofortiger Wirkung von seinem Posten als Enron-CEO zurück und ist damit der sechste Topmanager, der das Unternehmen innerhalb eines Jahres verlässt. Eine nachvollziehbare Begründung für seinen Rücktritt liefert Skilling nicht.

Der wieder eingesetzte Ex-CEO Lay kommentiert in einer kurzfristig anberaumten Telefonkonferenz:

I never felt better about the company. – Kenneth Lay

Im gleichen Call reagiert Lay weiterhin ablehnend auf die Forderungen nach mehr Transparenz und Offenlegung, woraufhin eine ganze Reihe an Analysten ihre Zielkurse für die Enron-Aktie nach unten korrigiert. Die Aktie fällt auf ein neues 52-Wochen-Tief von ~39 USD je Aktie.

15. August 2001: Die Enron-Managerin Sherron Watkins schickt ein anonymes Schreiben an Lay, in dem von fragwürdigen Buchhaltungspraktiken und einer möglichen Welle an Buchhaltungsskandalen die Rede ist. An die Behörden bzw. die Öffentlichkeit wendet sich Watkins allerdings nicht. Stattdessen empfiehlt sie eine interne Lösung des Problems.

12. Oktober 2001: Nancy Temple, eine Anwältin von Arthur Andersen (Enron’s Buchprüfer) schreibt eine Email an den zuständigen Partner der Houstoner Andersen-Niederlassung (Dave Duncan), um ihn an die Richtlinien der Firma zur Dokumentenvernichtung zu erinnern. Mit anderen Worten: Sie animiert zur Vernichtung belastender Dokumente. Andersen beschreibt diese Email später als Routineangelegenheit, viele Andersen-Führungskräfte dagegen bezeichnen sie als undenkbaren Vorgang.

Arthur Andersen and Enron - Email Nancy Temple

Email von Nancy Temple and den Andersen-Partner David Duncan (16.10.2001)

16. Oktober 2001: Enron gibt einen Quartalsverlust i.H.v. 618 Mio. USD sowie einen Rückgang des Eigenkapitals um ca. 1,2 Mrd. USD bekannt, wobei letzterer zum Teil auf die von Finanzchef Andrew Fastow geführten SPEs zurückzuführen ist. Moody’s Investors Service prüft daraufhin eine Herabstufung des Credit Ratings von Enron. Der Schlusskurs an diesem Tag liegt noch bei ca. 34 USD je Aktie.

22. Oktober 2001: Enron gibt zu, dass die US-Finanzaufsicht (die Securities and Exchange Commission bzw. SEC) mögliche Interessenkonflikte zwischen Enron und gewissen Zweckgesellschaften untersucht. Die Enron-Aktie verliert nochmal ca. ein Fünftel ihres Wertes.

26. Oktober 2001: Das Wall Street Journal berichtet über Chewco, eine Enron-Zweckgesellschaft, die angeblich von einem hochrangigen Enron-Manager geleitet wird. Die Aktie schließt bei ca. 15 USD.

8. November 2001: Enron muss auf Druck der Wirtschaftsprüfer rückwirkend seine Zahlen anpassen. Insgesamt korrigiert Enron die Gewinne seit 1997 aufgrund von “Buchhaltungsfehlern” um insgesamt 586 Mio. USD nach unten.

9. November 2001: Enron verhandelt mit dem direkten Konkurrenten Dynegy über einen Notverkauf. Im Raum steht ein Übernahmepreis i.H.v. ca. 9 Mrd. USD. Der Deal scheitert aber ca. 3 Wochen später endgültig.

29. November 2001: Die Untersuchung der SEC wird auf den Wirtschaftsprüfer Arthur Andersen ausgeweitet.

2. Dezember 2001: Enron meldet Konkurs an, den größten in der Geschichte der USA. Am Ende beträgt der Aktienkurs noch ganze 26 US-Cents.

Enron Kursentwicklung

Entwicklung Aktienkurs Enron und wesentliche Events [USD je Aktie]; Quelle: Websearch


Ausgangspunkt: Incentives der Enron-Manager

Bevor wir auf die etwas schwerer zu greifende Unternehmenskultur und die Biases der Manager zu sprechen kommen, vielleicht zunächst ein paar Details zu den monetären Anreizen der handelnden Personen (i.W. CEO Kenneth Lay und COO Jeff Skilling und die Führungsebene darunter).

Menschen funktionieren über Anreize. Erfolg und die einhergehende Anerkennung sind zwar wichtige Kriterien. Im Zweifel üben allerdings finanzielle Anreize erwiesenermaßen einen noch stärkeren Sog auf die Menschen aus.

Welche finanziellen Anreize hatte also eigentlich das Management von Enron? Oder noch etwas genauer: Von welchen Metriken und KPIs hing die finanzielle Vergütung von Lay, Skilling etc. eigentlich am stärksten ab?

Eine Antwort auf diese Fragen finden wir im so genannten Proxy Statement, dem US-amerikanischen Äquivalent zum Einladungsschreiben zur Hauptversammlung. Hier einmal die dort dargestellten Informationen zur Gesamtvergütung von CEO Kenneth Lay für das Jahr 2000 (in Mio. USD):

Enron Total Comp CEO Kenneth Lay

Gesamtvergütung CEO Kenneth Lay, 2000 [Mio. USD]; Quelle: Enron Proxy Statement 2001

Anhand der Abbildung könnt ihr im Grunde genommen schon erkennen, wie stark die Vergütung von CEO Lay – und auch den anderen Managern – von den zwei Faktoren Nettogewinn (wiederkehrend) und Aktienkurs (bzw. Total Shareholder Return) abhing (mehr als 80%).

Im Proxy Statement befinden sich auch insbesondere die Details zur langfristigen Incentivierung inklusive der wesentlichen Sperrfristen (“Vesting Periods”) und Hurdle Rates. Folgenden Passus zur langfristigen Vergütung finden wir dort ebenfalls:

Enron Stock Option Plans Proxy Statement

Das langfristige Vergütungsmodell von Enron bestand also i.W. aus zwei Komponenten: Aktienoptionen (Stock Options) und Restricted Stocks. Dabei waren letztere mit einer variablen Sperrfrist ausgestattet. Bei einer  überdurchschnittlich guten Performance des Aktienkurses  konnten diese Rechte also beschleunigt (d.h. im Wesentlichen unmittelbar) ausgeübt werden.

Wie der Absatz zur tatsächlichen Vergütung von CEO Kenneth Lay an anderer Stelle des Proxy Statements erkennen lässt, musste die Enron-Aktie um mindestens 20% besser abschneiden, als der Total Shareholder Return (TSR) des S&P 500 Index, um bestimmte Sperrfristen zu verkürzen:

Vesting Stock Options Kenneth Lay Proxy Statement Enron 2001

Zum 31.12.2000 hatte Enron laut Geschäftsbericht ca. 96 Mio. Aktienoptionen sowie ca. 21 Mio. “Restricted Stocks” ausgegeben, was mehr als 15% der ausstehenden Aktien zu dem Zeitpunkt (736 Mio. Stück) entsprach. Über 20 Mio. dieser Optionen hatten einen Ausübungspreis zwischen 71 und 86 USD je Aktie (relativ nah am Schlusskurs des Jahres 2000) und eine “Vesting Period” (Sperrfrist) von ~2 bis 4 Jahren.

Um die Optionen also tatsächlich kurzfristig ausüben zu können, musste der Aktienkurs also weiterhin stärker steigen, als der S&P 500 Index.

Da sich ein hoher Aktienkurs bzw. eine hohe Bewertung am besten durch ein entsprechendes Umsatzwachstum rechtfertigen lässt, hatte die Führung von Enron vermutlich ein gewisses Interesse daran, insbesondere das historisch starke Umsatzwachstum weiterhin aufrecht zu erhalten und die Wachstumsstory für den Kapitalmarkt weiterzuspinnen.

Darüber hinaus: Der zuständige Ausschuss des Verwaltungsrats (das “Compensation Committee” bzw. der Vergütungssauschuss) orientierte sich bzgl. des Zielwertes der CEO-Vergütung am Vergütungsniveau von Unternehmen mit vergleichbarem Umsatzniveau (wieder aus dem Proxy Statement 2001):

Enron Compensation Committee

Je größer also der Umsatz, desto höher auch die Gesamtvergütung der Top-Führungskräfte.

Wie ihr seht, bot die genutzte Vergütungsstruktur dem Enron-Management substantielle Anreize, sowohl den Umsatz als auch den Aktienkurs zu steigern.

Schlussendlich muss man allerdings sagen: Die enge Verknüpfung der Vergütung an den Aktienkurs war zwar vielleicht eine notwendige Bedingung. Hinreichend und in Summe ausreichend, um die ausufernde Manipulation der Financials final zu erklären, war sie aber nicht. Schließlich wird eine Incentivierung dieser Art in der Regel als eher positiv eingeordnet… nämlich als “gleichgerichtete Interessen von Managern und Anteilseignern”.

Vielleicht hat William Bratton seinen längeren Artikel zum Thema auch deshalb mit “Enron and the Dark Side of Shareholder Value” betitelt.


Overconfidence, persönliche Bereicherungen, fehlende Kontrollmechanismen

Was aber sonst hätte also als Erklärung für die Manipulation der Zahlen dienen können. Gab es noch andere Anreize für Lay, Skilling und Co?

Wenn man sich die alten Unterlagen, d.h. Geschäftsberichte, Zeitungsartikel und Interviews einmal ansieht, dann fallen einem hierzu spontan zwei Themen ein:

  • ein gewisses Overconfidence Bias im Top-Management und auf der Ebene darunter (beschönigend ausgedrückt)
  • eine auf die eigene Bereicherung bzw. das Erzielen kurzfristiger Gewinne ausgerichtete Performance- bzw. Unternehmenskultur

Aber schauen wir mal auf ein paar Details bzw. Indikatoren.


Overconfidence Bias im Top-Management

Wenn man sich die Historie von Enron einmal ansieht und sich ein paar Interviews etc. mit Lay und Skilling durchliest, dann muss man eigentlich zu dem Schluss kommen, dass Enron’s Managern der Erfolg im Gastrading-Geschäft damals etwas zu Kopf gestiegen war.

Dass sich Enron im entstehenden Gashandel zu Beginn sehr vorteilhaft positioniert und den Markt gewissermaßen mit entwickelt bzw. etabliert hat, kann man denke ich als erwiesen ansehen. Für sich genommen ist das natürlich erstmal eine sehr valide Erfolgsstory, die CEO Kenneth Lay in einem Interview mit dem Fortune Magazin im Jahr 1997 einmal so beschrieb:

We changed the concept of how the natural gas industry was run – new products, new services, new kinds of contracts, new ways of pricing. – Kenneth Lay

Der Artikel bzw. das Interview war bezeichnenderweise mit “The Secrets of America’s Most Admired Corporations” überschrieben. Ganz generell wurde Enron zu der Zeit in vielen Medien und auch an der Wall Street über den grünen Klee gelobt. Allgemein ist schwer vorstellbar, dass das ohne Einfluss auf das Management geblieben sein könnte.

Im Geschäftsbericht des Jahres 2000 – und auch schon in den Berichten aus den Jahren zuvor – finden sich dann auch Absätze und Textpassagen, die erkennen lassen, dass das Selbstverständnis des Enron-Managements vom Unternehmen und auch von den eigenen Fähigkeiten bereits weit über das traditionelle Gasgeschäft hinausreichte:

Our performance and capabilities cannot be compared to a traditional energy peer group. Our results put us in the top tier of the world’s corporations. We have a proven business concept that is eminently scalable in our existing businesses and adaptable enough to extend to new markets. – Enron Geschäftsbericht 2000

Enron sah sich also gar nicht mehr im Wettbewerb mit anderen Energieunternehmen, sondern stellte sich eher auf eine Stufe mit den größten und profitabelsten Unternehmen der Welt (damals in den USA der Oil Major ExxonMobil, der Retailer Walmart, die Auto-OEMs GM und Ford etc.).

Top 10 US-UNternehmen nach Umsatz 2000

Größte US-Unternehmen nach Umsatz, 2000 [Mrd. USD]; Quelle: Fortune 500

Wie ihr sehen könnt, war Enron nach dem Umsatz gemessen im Jahr 2000 bereits das siebtgrößte US-Unternehmen. Allerdings hatten Lay und Skilling durchaus die Ambition, (kurzfristig) zu den ganz Großen aufzuschließen. Jedenfalls lässt sich dies aus dem im Jahr 2000 entwickelten neue Slogan des Unternehmens ableiten:

The World’s Leading Company. – Inoffiziell diskutierter Enron-Slogan

Darüber hinaus finden sich im letzten Jahresbericht von Enron eine ganze Reihe weiterer Zitate, die auf die Ambitionen in neuen, ich nenne es mal “Enron-fernen” Geschäftssegmenten schließen lassen, z.B.:

EnronOnline is unquestionably the largest web-based eCommerce site in the world.

Enron Broadband Services’ goals are to: […] Be the world’s largest marketer of bandwidth and network services. Be the world’s largest provider of premium content delivery services.

[…] the world’s leading merchant of non-ferrous metals.

In Summe könnte man das Selbstverständnis bzw. die Verhaltensmuster des Enron-Managements in den 1990er Jahren also vielleicht in etwa so beschreiben:

  • Der Anstieg des Aktienkurses und das positive Feedback von Analysten und Medien wurde als unmittelbare Bestätigung der Strategie bzw. des Erfolgs im risikoreichen Gastrading-Geschäft aufgefasst (obwohl ein langfristiger Track Record eigentlich noch gar nicht existierte)
  • Die positiven Aspekte dieses Geschäftsmodells wurden deshalb nach innen wie nach außen stark überbetont. Gleichzeitig wurden die Risiken größtenteils ausgeblendet bzw. marginalisiert
  • Eine Übertragung auf andere Bereiche (i.W. Strom, Metalle, Wasser, E-Commerce, Breitband) wurde aufgrund “der einzigartigen Skills” der Enron-Mitarbeiter (“We are able to attract the best and the brightest”) als Fingerübung angesehen
  • Das Erreichen sehr ambitionierter Ziele – i.W. die Skalierung des Geschäftsmodells in für Enron komplett fremden Marktsegmenten – wurde deshalb für einen sehr kurzen, mehr oder weniger unrealistischen Zeithorizont avisiert

Mit anderen Worten: Das Enron-Management hat sich vom frühen Erfolg im Gasgeschäft und den vielen Vorschusslorbeeren externer Beobachter zu sehr risikoreichen Geschäften verleiten lassen und konnte am Ende nicht zugeben, dass viele dieser Geschäfte im Grunde genommen einfach nicht funktioniert haben (und dass stellenweise auch sehr viel Kapital in diesen Geschäften versenkt wurde).


Enron’s “Rank and Yank” Unternehmenskultur

Als weiterer, wesentlicher Grund für das Scheitern von Enron wird oft die von Jeff Skilling etablierte und auf den Vorteil jedes Einzelnen fokussierte “meritokratische” Unternehmenskultur genannt. Diese Kultur ließ sich insbesondere an der Umsetzung des so genannten “Rank and Yank” Systems festmachen.

Bei Enron gab es halbjährliche “Performance Reviews”, die zu einem Ranking der Mitarbeiter durch einen 25-köpfigen Ausschuss (das “PRC”) führten und in hohen Boni und Aktienoptionen für die “besten” 5-10% sowie in vielen Fällen einer unmittelbaren Entlassung der “schlechtesten” 15-20% der Mitarbeiter mündeten (“Rank and Yank”).

Die Boni etc. basierten dabei i.W. auf einer Kombination aus persönlicher Bewertung und Business Unit Performance. Wieder aus dem Proxy Statement:

Enron PRC

Im Rahmen des Performance Reviews wurde jeder Mitarbeiter in eine von fünf Kategorien einsortiert (die Tempa Bay Times und das Time Magazine berichteten hierüber im Mai bzw. Juni 2001):

  • Hervorragend bzw. “superior” (5%)
  • Ausgezeichnet bzw. “excellent” (30%)
  • Stark bzw. “strong” (30%)
  • Zufriedenstellend bzw. “satisfactory” (20%)
  • Verbesserungswürdig bzw. “needs improvement” (15%)

In der Nutzung eines solchen Systems war Enron zwar damals nicht allein (GE, Ford, Conoco oder Microsoft nutzten ähnliche Systeme). Die Kriterien, die Enron ansetzte, um die Mitarbeiter einzukategorisieren, beförderten allerdings nicht unbedingt eine langfristig angelegte Streitkultur (d.h. eine auf das Finden der besten Lösung ausgelegte Diskussionskultur), sondern waren eher auf die Maximierung der kurzfristigen Kennzahlen ausgerichtet.

Oft war das Ranking daher subjektiv: Auf den obersten Plätzen landete im Grunde genommen nur, wer mit seinen Projekten oder “Deals” substantiell zum Quartals- bzw. Jahresergebnis beigetragen hatte.

We insist on results. – Enron Geschäftsbericht 1999

Die Art und Weise, auf die die Gewinne erzielt wurden, spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle. So lange das Ergebnis stimmte, sah niemand aus der Führungsetage zu genau hin (der Zweck heiligte die Mittel). Dies wird im Grunde auch durch eine Passage im Geschäftsbericht aus 1999 angerissen bzw. bestätigt:

Our culture of innovation is difficult to duplicate. Individuals are empowered to do what they think is best, and most of our outstanding initiatives in 1999 came directly from our own ranks. Our philiosophy is to not stand in the way of our employees, so we don’t insist on hierarchical approval. – Enron Geschäftsbericht 1999

Im Jahr 2000 lobte Skilling beispielsweise öffentlich die Mitarbeiterin, die den Online-Handel von Enron einfach gegen den Willen ihrer Vorgesetzten ins Leben gerufen hatte. Lay erzählte regelmäßig eine ähnliche Story, in der es um einen Mitarbeiter in Großbritannien ging, der gegen die Anweisung aus Houston ein Handelsgeschäft aufgebaut hatte.

The moral of the story is, ‘You can break the rules, you can cheat, you can lie, but as long as you make money, it’s all right’. – Hochrangiger Enron-Mitarbeiter


Auf Kurssteigerung ausgelegte Budgetziele ohne Kontrollmechanismen

Ein weiteres unter der Führung von Skilling entstandenes und eng mit der kulturellen Thematik verbundenes Phänomen stellten die unprofitablen Projekte sowie die ausufernden Kosten bei Enron dar. Ganz entsprechend der kulturellen Grundsätze (“Individuals are empowered to do what they think is best”) wurde i.W. alles Wesentliche den Mitarbeitern überlassen… wovon diese auch in entsprechendem Umfang Gebrauch machten.

Es gab zwar Budget-Meetings und entsprechende Prozesse. Konkret ging es aber meist nur um die Zielsetzungen zur Erreichung der Quartalsziele. Skilling fragte in solchen Meetings regelmäßig nach dem für einen weiteren Kursanstieg erforderlichen Gewinn, nur um dann im Nachgang die genannten Werte als Kurzfristziele festzulegen.

What earnings do you need to keep our stock price up? – Skilling’s Standardfrage in Enron Budget-Meetings

Einen detaillierten Review geplanter Projekte und Investitionen gab es offenbar nicht. Ganz generell schien Skilling keinen besonderen Wert auf Kosteneffizienz zu legen oder sich damit intensiv befassen zu wollen. Eher im Gegenteil. Als er in seiner ersten Woche bei Enron eine Ausgabenübersicht zur Kontrolle vorgelegt bekam, kommentierte er das folgendermaßen:

You’ve got to be kidding me. Here the world’s just fallen apart around us–deregulation, new customers, new products. And I’m going to sit here line-item by line-item and go through an expense statement? – Jeff Skilling, 1990 (in seiner ersten Woche bei Enron)

In der Konsequenz bekam er danach keinen einzigen solchen Report mehr vorgelegt… und fragte auch nicht danach.

Wie auch Lay und Skilling selbst, nutzen hochrangige Enron-Führungskräfte z.B. außerdem die 3 (!!) firmeneigenen Flugzeuge regelmäßig auch für private Trips (ersichtlich aus dem Proxy Statement). Auf die Frage nach der Wirkung auf den Rest der Mitarbeiterschaft antwortete Lay damals:

Well, I think it gives my senior people something to aspire to. – Ken Lay, 2000

Also keinerlei Sensibilität für den Umgang mit dem Kapital der Anteilseigner oder anderweitiges Interesse an einem kosteneffizienten Betrieb ohne Exzesse.


Key Take Aways

Die Insolvenz von Enron im Dezember 2001 ist nicht durch ein einzelnes Ereignis oder einen einzelnen großen Fehler zu erklären.

In Summe handelte es sich um ein komplexes, über die Jahre gewachsenes Cash- bzw. Schuldenproblem, welches vom Top-Management des Unternehmens (i.W. waren das CEO Ken Lay, COO Jeff Skilling und CFO Andrew Fastow) erst transparent gemacht wurde, als es gar nicht mehr anders ging.

Vorausgegangen waren eine ganze Reihe an (teilweise auch illegalen) Bilanzmanipulationen unter der Zuhilfenahme von Zweckgesellschaften zur Verschiebung von Schulden sozusagen neben die Bilanz.

Rückwirkend muss man sagen, dass neben des Anreizsystems und dem daraus resultierenden Fokus auf den Aktienkurs und die Quartalsergebnisse auch die Selbstüberschätzung der Top-Manager, die auf kurzfristige Gewinnmaximierung und intensiven Wettbewerb untereinander ausgelegte Unternehmenskultur sowie auch mangelnde Kontrollmechanismen eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften.


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