Vor Kurzem hatte ich hier mit dem Adjusted Present Value Ansatz eine Alternative zur herkömmlichen DCF-Methodik (auch “Kapitalkosten-Ansatz” bzw. “Cost of Capital”-Ansatz genannt) für die Unternehmensbewertung vorgestellt. Dabei hatte ich als Einschränkung vorangestellt, dass die Kapitalstruktur, heißt i.W. der Fremdkapitalanteil, zur jeweiligen Branche und zum Geschäftsmodell passen muss. Mit anderen Worten: Das Unternehmen sollte durch die Kapitalstruktur keinem erhöhten Insolvenzrisiko ausgesetzt sein. Ist dies doch der Fall, dann müssen wir den APV Ansatz noch etwas erweitern, um auch die so genannten Insolvenzkosten mit abzubilden.
Auf diese Erweiterung des APV-Ansatzes möchte ich in diesem Artikel einmal kurz eingehen.
Recap: Der Adjusted Present Value Ansatz
Hier nur nochmal ganz kurz (die Details könnt ihr im Artikel zum APV nachlesen): Der Adjusted Present Value Ansatz geht analog zur DCF-Methodik bzw. zum Kapitalkosten-Ansatz von den freien Cash Flows aus. Allerdings wird der Enterprise Value nicht integriert berechnet, sondern die Berechnung erfolgt in zwei separaten Schritten:
- Der Ermittlung des Enterprise Value für ein unverschuldetes Unternehmen, d.h. Abdiskontierung bzw. Barwertberechnung auf Basis der unverschuldeten Eigenkapitalkosten (berechnet mit dem Unlevered Beta)
- Der Ermittlung des zusätzlichen Wertbeitrags durch Fremdfinanzierung, d.h. dem positiven Effekt aus der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen (Tax Shield)
Mathematisch ausgedrückt ermittelt sich der Adjusted Present Value folgendermaßen:
Adjusted Present Value = Ungehebelter Firmenwert + Nettoeffekt der Verschuldung
Ist der Verschuldungsgrad überschaubar und passend zum Geschäftsmodell bzw. zum Geschäftsrisiko, können wir die Formel im Grunde genommen 1-zu-1 wie dargestellt verwenden.
Berücksichtigung von Insolvenzkosten
Passt die Verschuldung allerdings nicht mehr zum Geschäftsrisiko, erhöht sich das Risiko einer Insolvenz. Ganz praktisch kann das z.B. bedeuten, dass ein Unternehmen seine Zinszahlungen nur noch ganz knapp aus dem operativen Gewinn bzw. Cash Flow bestreiten kann (niedrige Zinsdeckung oder hohes Leverage bzw. Net Debt / EBITDA) und unter Umständen die Covenants reißt.
In diesem Fall müssen wir unseren APV-Ansatz nochmal um einen dritten Schritt, nämlich die Abschätzung der Konkurs- bzw. Insolvenzkosten (direkte und indirekte) sowie der zugehörigen Konkurswahrscheinlichkeit erweitern:
Adjusted Present Value = ungehebelter Firmenwert + Nettoeffekt der Verschuldung – erwartete Insolvenzkosten
Die erwarteten Insolvenzkosten ergeben sich dabei aus der Multiplikation der Insolvenzkosten mit der zugehörigen Eintrittswahrscheinlichkeit.
Erwartete Insolvenzkosten = Konkurswahrscheinlichkeit x Barwert der Insolvenzkosten
Konkret müssen wir deshalb zwei Faktoren grob abschätzen können, um die Insolvenzkosten zu ermitteln:
- Die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz bei einem gegebenen Fremdkapitalanteil… das Insolvenzrisiko
- Die Höhe der direkten und indirekten Insolvenzkosten (bzw. den Barwert dieser)
Dieser Schritt ist im Rahmen der APV-Berechnung typischerweise am problematischsten, da wir weder die Konkurswahrscheinlichkeit noch die Konkurskosten direkt irgendwo ablesen können.
Konkurswahrscheinlichkeit
Die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz hängt neben dem Verschuldungsgrad (d.h. im Wesentlichem dem Fremdkapitalanteil) vor allem auch vom Geschäftsmodell und vom Geschäftsrisiko ab.
Die beste Repräsentation des Insolvenzrisikos finden wir in der Regel im Kredit-Rating von Standard & Poors, Fitch oder Moody’s, welche ihr Rating nämlich genau auf Basis von Finanzrisiko und Geschäftsrisiko (Financial Risk und Business Risk) des Unternehmens ermitteln.
So kann ein Unternehmen mit sehr stabilen und gut prognostizierbaren Cash Flows, z.B. eine Immobilienfirma, im Vergleich mit einem höheren Fremdkapitalanteil zurechtkommen als beispielsweise ein Unternehmen aus einer sehr zyklischen Branche wie ein Halbleiterhersteller. In einer finanziellen Notlage kann ein Unternehmen darüber hinaus dazu gezwungen sein, Assets abzustoßen (d.h. zu verkaufen), um sich zu refinanzieren. In diesem Fall könnte sich das Rating auch aufgrund einer Veränderung des Geschäftsrisikos verändern.
So oder so: Am Ende steht jedenfalls das Bond-Rating als aussagekräftige Information über die Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens.
Dieses Bond-Rating können wir nun nutzen, um daraus eine entsprechende Konkurswahrscheinlichkeit abzuleiten… und glücklicherweise hat sich auch schonmal jemand – nämlich wie so oft Aswath Damodaran von der Princeton University – Gedanken über die Zuordnung von Bond-Rating und Konkurswahrscheinlichkeit gemacht:
Wie ihr sehen könnt, ist die Konkurswahrscheinlichkeit für alle mit einem Investment Grade versehenen Unternehmen (bis BBB- nach der Standard & Poors Definition) doch sehr überschaubar. Richtig spannend wird es erst ab B+ und darunter.
Insolvenzkosten
Haben wir Bond Rating und Konkurswahrscheinlichkeit einmal abgeschätzt, können wir uns mit den eigentlichen Insolvenzkosten befassen. Auch hierfür gibt es allerdings keinen einfachen Ansatz.
Am pragmatischsten (und wir sind ja alle Pragmatiker 🙂 ) ist hier aus meiner Sicht das Heranziehen von Studien aus der Vergangenheit, die sich mit den Kosten von Insolvenzen befasst haben.
Aber vielleicht nochmal ein Schritt zurück. Was sind Insolvenzkosten denn eigentlich genau?
Grundsätzlich wird zwischen direkten und indirekten Insolvenzkosten (Bankruptcy Costs) unterschieden:
- Direkte Insolvenzkosten: Die direkten Insolvenzkosten beinhalten über die Kosten für die Beantragung der Insolvenz hinaus vor allem die Honorare für in das Insolvenzverfahren involvierten Anwälte, Wirtschaftsprüfer und Investment-Banker
- Indirekte Insolvenzkosten: Hierbei handelt es sich vor allem um die Kosten, die beispielsweise aus dem Vertrauensverlust der Kunden (Umsatzrückgang), der Abwanderung von Mitarbeitern oder dem Verlust von finanzierenden Banken entstehen
Laut besagter Studien sollte der Anteil der direkten Insolvenzkosten am ungehebelten Firmenwert nun in der Größenordnung von max. 5% liegen. Die indirekten Insolvenzkosten können je nach Unternehmen irgendwo zwischen 20 und 30% des Enterprise Value betragen. Für beide diese Schätzungen gibt es allerdings keine solide unterstützende Datenbasis. Aswath Damodaran rechnet in einem Beispiel für seine Studenten mit einem Satz von 40%.
Beispiel: Abschätzung des APV inkl. Insolvenzkosten
Um die Berücksichtigung der zusätzlichen Insolvenzkosten einmal zu illustrieren, greife ich auf das Beispiel aus meinem Artikel zum Adjusted Present Value zurück:
- NOPAT bzw. FCFF = 70 Mio. EUR
- 200 Mio. EUR Schulden
- Unverschuldete EK-Kosten: 12%
- Fremdkapitalkosten (vor Steuern): 5%
- Resultierende Zinszahlung: 200 Mio. EUR x 5% = 10 Mio. EUR
- Steuersatz: 30%
Den APV hatte ich für dieses Beispiel ohne die Berücksichtigung von Insolvenzkosten zu ca. 643 Mio. EUR ermittelt (583 Mio. EUR ungehebelter Firmenwert plus 60 Mio. EUR Effekt durch Fremdfinanzierung). Rechnen wir einmal konservativ mit Insolvenzkosten in Höhe von 40% des Firmenwertes, erhalten wir dafür einen Barwert von ca. 257 Mio. EUR.
Die Zinsdeckung (Interest Coverage) liegt in diesem Fall beim ca. 7-Fachen (EBIT von 70 Mio. EUR geteilt durch jährliche Zinsen von 10 Mio. EUR). Das synthetische Bond-Rating entsprechend unserer Tabelle (dieses findet ihr hier) wäre demnach ein AA… die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz für ein solches Unternehmen liegt quasi bei 0%.
Den Adjusted Present Value ermitteln wir dem entsprechend folgendermaßen:
APV = 583 Mio. EUR + 60 Mio. EUR – 0% x 257 EUR = 643 Mio. EUR
Wie ihr seht, hat eine mögliche Insolvenz in diesem Beispiel keinen Einfluss auf den intrinsischen Wert, einfach weil die Konkurswahrscheinlichkeit quasi gleich Null ist. Ich hoffe aber, dass die Berechnungsmethodik bzw. Herangehensweise trotzdem klar herauskommt.
Fazit
Passt die Kapitalstruktur bzw. der Fremdkapital-Anteil nicht zum Geschäftsmodell eines Unternehmens (d.h. das Unternehmen hat mehr Schulden aufgenommen, als es vertragen kann), müssen wir im Rahmen der Berechnung des Adjusted Present Value noch eine dritte Komponente, nämlich die Kosten einer möglichen Insolvenz, berücksichtigen. In diesem Fall wirkt das Fremdkapital nämlich nicht mehr nur positiv (über den Tax Shield), sondern hat auch negative Implikationen in Form eines erhöhten Insolvenzrisikos.
Die erwarteten Insolvenzkosten ergeben sich dabei aus dem Barwert der direkten und indirekten Insolvenzkosten multipliziert mit der entsprechenden Konkurswahrscheinlichkeit.
Die Insolvenzkosten werden grob mit ca. 25-40% des ungehebelten Firmenwertes veranschlagt, die Konkurswahrscheinlichkeit auf Basis des synthetischen Bond-Ratings (Rating in Abhängigkeit von der Zinsdeckung oder einem anderen typischen Covenant) ermittelt.