Im ersten Teil der Leoni-Fallstudie bzw. Post-Mortem-Analyse bin ich auf die Entwicklung der Firma in den Jahren 2013 bis 2019 eingegangen. Ich denke anhand der verfügbaren Informationen ist relativ deutlich geworden, dass insbesondere hausgemachte Probleme (Annahme EBIT-negativer Projekte, operative Probleme, nicht vorhandene Steuerungsmechanismen, unzureichende Transparenz, häufige Management-Wechsel) für die schlechte Ausgangssituation zu Beginn des Geschäftsjahres 2020 verantwortlich zeichneten.
In diesem Artikel möchte ich nun einmal auf die weitere (leider ebenfalls durchweg negative) Entwicklung in den Folgejahren eingehen… angefangen zu Beginn des Jahres 2020.
Recap: Situation der Leoni AG zu Beginn des Jahres 2020
Insgesamt stellte sich die Situation zu Beginn des Jahres 2020 ungefähr wie folgt dar.
Ich fasse nochmal kurz zusammen (Details könnt ihr in Teil 1 nachlesen):
- Der freie Cash Flow (vor M&A) war aufgrund der schlechten operativen Performance und der regelmäßigen Überinvestitionen bereits seit 2014 durchgängig negativ. Allein in den beiden Jahren 2018 und 2019 beliefen sich die Kapitalabflüsse auf aggregiert mehr als 450 Mio. EUR
- Das Gearing (Nettofinanzverschuldung / Eigenkapital) erreichte zum Ende des Geschäftsjahres 2019 einen Wert von fast 200% (d.h. das ca. Vierfache des Zielwerts von 50%), die verfügbaren Kreditlinien waren mit ca. 500 Mio. EUR bereits ca. bis zur Hälfte in Anspruch genommen, die EK-Quote bis auf ~18% zusammengeschrumpft
- Im Folgejahr (2020) stand die Refinanzierung bzw. Ablösung von Schuldscheinen in der Größenordnung von ca. 196 Mio. EUR an
Konsequenterweise wurde der Aufsichtsrat noch in 2019 aktiv und beschloss die folgenden Gegenmaßnahmen zur Sicherung der Liquidität und zur Stabilisierung des Unternehmens:
- Aussetzung der Dividende für die Jahre 2018 (Mittelabfluss wäre gewesen in 2019) und 2019 (Mittelabfluss wäre gewesen in 2020)
- Erhöhung der Liquidität um insgesamt 200 Mio. EUR
- Beauftragung eines IDW S6 Sanierungsgutachtens als Hilfsmittel für die Diskussion mit Kapitalmarkt und Kreditgebern
- Beschluss über den Carve-Out und den späteren Verkauf / IPO der Division Wire & Cable Solutions
Wie ging es dann also im Jahr 2020 weiter?
Beginn der Corona-Krise und erste Refinanzierungen (Jahre 2020 und 2021)
Im März 2020 erhielt die Leoni AG vom Gutachter zunächst eine positive Fortführungsprognose (IDW S6 Gutachten). Ein wichtiges und Vertrauen schaffendes Signal an die Banken, welches allerdings durch den Ausbruch der Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen relativ schnell relativiert werden musste.
Operativ gesehen war das Jahr ein Desaster. Aufgrund der stark reduzierten Abrufe seitens der Automobilindustrie ging der Umsatz natürlich substanziell zurück (um ca. 15% von 4,8 auf ca. 4,1 Mrd. EUR). Bei gleichzeitig nur unterproportional abnehmenden Aufwendungen führte das zu einem größenordnungsmäßig mit dem Vorjahr zu vergleichenden Nettoverlust i.H.v. 330 Mio. EUR (logisch… denn die ganzen Fixkosten blieben natürlich erstmal mehr oder weniger stehen).
Aufgrund der stark heruntergefahrenen Investitionen (in 2020 lagen diese um 26 Mio. EUR unterhalb des entsprechenden Abschreibungsniveaus) sowie der Ausweitung des Factoring– und Reverse Factoring-Programms betrug der Barmittelabfluss (wieder vor M&A) im Jahr 2020 “nur” ca. 140 Mio. EUR:

Kurz ein paar Worte zum (Reverse) Factoring-Programm:
- Factoring: Das Factoring-Programm wurde im Jahr 2020 signifikant ausgeweitet. Heißt das bestehende Factoring-Volumen wurde um 50 Mio. EUR erweitert sowie neue “Factoring Lines” i.H.v. ~280 Mio. EUR mit zwei Factoring-Anbietern abgeschlossen. Diese Maßnahme führte in Summe zu einer Reduzierung der Forderungen auf der Bilanz (und zu einem in etwa äquivalenten Cash Inflow) i.H.v. ~221 Mio. EUR
- Reverse Factoring: Mithilfe des Reverse Factoring wurden im Jahr 2020 ca. 160 Mio. EUR zwischenfinanziert
Die Vereinbarungen mit den Factoring-Anbietern liefen bis zum Ende des Jahres 2022, d.h. auch die mit den Programmen in Zusammenhang stehenden Verbindlichkeiten hatte ihre Fälligkeit am Ende des Jahres 2022 (oder später).
Darüber hinaus wurden die folgenden Maßnahmen ergriffen (erarbeitet und umgesetzt gemeinsam mit dem erfahrenen Restrukturierer Hans-Joachim Ziems, der seit April 2020 als Chief Restructuring Officer (CRO) bei Leoni fungierte):
- Über verschiedene Sale-and-Leaseback Transaktionen in Deutschland und China konnten Mittelzuflüsse in der Größenordnung von 65 Mio. EUR generiert werden
- Die fälligen Schuldscheindarlehen (196 Mio. EUR) konnten erfolgreich zurückgezahlt werden
- Bilaterale Kreditlinien i.H.v. 276 Mio. EUR konnten in einen Konsortialkredit überführt werden (die so genannte Revolving Credit Facility II (RCF II))
- Mithilfe einer Bund-Länder-Großbürgschaft i.H.v. 90% des Kreditbetrags konnte ein Betriebsmittelkredit i.H.v. 330 Mio. EUR aufgenommen werden, wovon der Löwenanteil (240 Mio. EUR) bereits im ersten Halbjahr 2020 ausbezahlt wurde (RCF III)
Alles in allem eine ganze Reihe an Maßnahmen, die – verständlicherweise – sehr stark darauf ausgerichtet waren, den aus der Corona-Pandemie resultierenden negativen Cash Flow zu finanzieren, ohne die vorhandene Liquidität vollständig aufzubrauchen. Mithilfe dieser Maßnahmen konnte sich das Unternehmen zunächst bis in das Jahr 2022 hinüberretten.
Klar ist allerdings auch, dass sich die Bilanzstruktur dadurch noch weiter verschlechterte, wie man an der folgenden Abbildung erkennen kann:

Stand Ende 2021 war also das Gearing mit 625% auf einem neuen Höchststand angekommen (nochmal zum Vergleich: Das Ziel der Leoni AG lag bei 50%!). Das Eigenkapital war darüber hinaus fast vollständig aufgebraucht und die EK-Quote von 18% zum Ende des Geschäftsjahres 2019 auf nur noch 7% zum Ende des Geschäftsjahres 2021 gefallen.
Also bereits für sich allein genommen nicht gerade die beste Ausgangsposition, um in das Jahr 2022 zu starten. Was aber stand im Jahr 2022 sonst noch so an?
Scheitern der Refinanzierung in 2022
Im Wesentlichen war das Jahr 2022 gekennzeichnet durch einen weiterhin negativen freien Cash Flow (Corona war ja noch nicht überwunden) sowie einem substanziellen Refinanzierungsbedarf. Neben einer kleineren Tranche an Schuldscheindarlehen (~50 Mio. EUR) mussten nämlich insbesondere die Revolving Credit Facilities II und III zum Ende des Jahres 2022 entweder abgelöst oder refinanziert werden. Teile des Factoring-Programms liefen darüber hinaus ebenfalls aus.
Insgesamt ergab sich hieraus ein Liquiditätsbedarf zum Ende des Geschäftsjahres 2022 von ca. 700 Mio. EUR bzw. genauer 688 Mio. EUR entsprechend der folgenden Abbildung (die durch die auslaufenden Factoring-Programme entstehenden zusätzlichen Working Capital-Bedarfe noch nicht eingerechnet):

Zum Liquiditätsbedarf: Wie aus der linken Seite der obenstehenden Grafik ersichtlich wird, erwirtschaftete die Leoni AG auch im Jahr 2022 wieder einen negativen freien Cash Flow (Größenordnung diesmal ca. 170 Mio. EUR). Dazu kamen die bereits oben angesprochenen ca. 50 Mio. EUR an abzulösenden Schuldscheinen sowie die bereits ausgeschöpften Teile der Revolver II und III (in Summe ca. 480 Mio. EUR). Alles in allem und gerundet also ca. 700 Mio. EUR, die irgendwie abgelöst bzw. refinanziert oder verlängert werden mussten (unter der Annahme, dass das vorhandene Liquiditätsniveau i.H.v. ca. 400 Mio. EUR gehalten wird).
Gegengerechnet werden konnte zumindest schonmal ein Barmittelzufluss i.H.v. ca. 310 Mio. EUR aus dem Verkauf der Business Group Industrial (BG IN), ein Deal welcher bereits im Januar 2022 “geclosed” werden konnte (ihr erinnert euch: Der Aufsichtsrat hatte bereits im Jahr 2019 den Carve-Out und anschließenden Verkauf der Division Wire & Cable Solutions beschlossen).
Hier ein paar weitere Details zur Transaktion:
- Käufer: Bizlink
- Business: Geschäft mit Industriekunden der LEONI Division Wire & Cable Systems
- Signing: Okt. 2021
- Closing: Jan. 2022
- Kaufpreis / EV: ~440 Mio. EUR
- Schuldenübernahme ~125 Mio. EUR
- Kaufpreiszahlung (Cash) ~315 Mio. EUR
Verblieben also noch ca. 400-450 Mio. EUR, welche eigentlich aus dem Verkauf der Business Group Automotive (BG AM) erlöst werden sollten. Auch für diesen noch verbliebenen Teil der Division Wire & Cable Solutions gab es mit der Stark Corporation einen Käufer (und seit Mai 2022 auch einen unterschriebenen Kaufvertrag). So sah die geplante Transaktion im Detail aus:
- Käufer: Stark Corp.
- Business: Geschäft mit Automobilkunden der LEONI Division Wire & Cable Systems
- Signing: Mai 2022
- Closing: –
- Kaufpreis / EV: ~560 Mio. EUR
- Schuldenübernahme ~120 Mio. EUR
- Kaufpreiszahlung (Cash) ~440 Mio. EUR
Sehr zum Bedauern der Leoni AG vollzog Stark allerdings zum Zeitpunkt des Closings (im Dezember 2022) den Deal nicht, sodass zum Ende des Geschäftsjahres 2022 das Kapital fehlte, um die Kreditlinien abzulösen (hier der Link zur entsprechenden Ad-hoc-Mitteilung)… bzw. die Liquidität, um die RCFs refinanzieren zu können.
Was passierte also nun mutmaßlich in den Verhandlungen zwischen Leoni und den Kreditgebern bzgl. der Verlängerung der beiden Kreditlinien? Folgendes ist bekannt:
Die Banken hatten ursprünglich einer Refinanzierung bis Ende 2025 zugestimmt, sofern LEONI die Verlaufserlöse aus dem BG AM Verkauf zur Steigerung der Liquidität (160 Mio. EUR) sowie zur weiteren Schuldentilgung verwendet. Insbesondere die Kreditlinie RCF II enthielt nämlich einen Covenant in Form einer Untergrenze für die vorzuhaltende Mindestliquidität.
Aufgrund der Notlage nach dem gescheiterten Verkauf von BG AM Ende 2022 blieb den Banken allerdings quasi nichts anderes übrig, als der Leoni AG eine Verlängerung der Laufzeiten der RCFs bis Mitte 2023 zu gewähren, um ein neues bzw. alternatives Finanzierungskonzept zu erarbeiten.
Zu diesem Zeitpunkt – es war Anfang Januar 2023 – kehrte Hans-Joachim Ziems schließlich als CRO zu Leoni zurück und nahm Gespräche mit den Banken und Stefan Pierer auf, dem mit einem Anteil von damals 20% größten Anteilseigner von Leoni.
Wo diese Gespräche hingeführt haben, lest ihr im dritten und letzten Teil der Fallstudie / Post-Mortem-Analyse zur Leoni AG.
Bottom Line
Die Leoni AG befand sich zu Beginn des Jahres 2020 bereits in einer sehr schwierigen Situation. Selbst in einem “Business as usual”-Szenario hätte das Unternehmen wohl eine umfangreichere Restrukturierung durchführen müssen.
Der Ausbruch der Corona-Pandemie kam dem entsprechend für das Unternehmen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt und reduzierte den finanziellen Spielraum nochmal zusätzlich… so weit, dass zum Ende des Geschäftsjahres 2022 ein Liquiditätsbedarf i.H.v. ca. 700 Mio. EUR aufgelaufen war.
Die als quasi letzter Ausweg angestoßenen Asset-Verkäufe der Business Groups Industrial und Automotive hätten dem Unternehmen zumindest noch etwas zusätzlichen Spielraum verschafft… ohne die Bilanz allerdings wirklich zu bereinigen.
Im dritten Teil der Artikelserie zur Leoni AG gehe ich ich Kürze noch auf das letzte unschöne Kapitel in der aktuellen Geschichte der Leoni AG ein: Die Sanierung nach StaRUG und anschließende Privatisierung des Unternehmens im Jahr 2023. Auch das aus meiner Sicht nochmal sehr erhellend (obwohl für alle Betroffenen natürlich unschön).