Enron Case Study Teil 3: Accounting Red Flags

Enron Accounting Red Flags

Inhalt

Enron Accounting Red Flags
Quelle: Flickr / Travis Wise; Lizenz: Flickr / Travis Wise

In den ersten beiden Teilen der Enron Case Study hatte ich mich zunächst etwas detaillierter mit der Historie von Enron sowie dem frühen Geschäftsmodell im Bereich des Gashandels befasst. In diesem dritten Teil möchte ich nun einmal auf die wesentlichen “Red Flags” bzw. Warnsignale in den Jahresabschlüssen und anderen öffentlich verfügbaren Informationsquellen eingehen, also darauf, was einem Analysten bei der Betrachtung outside-in und ohne Insiderinformationen hätte auffallen können (und zwar vor den entlarvenden Ereignissen im Laufe des Jahres 2001).

Vielleicht noch eine kleine Ergänzung bevor wir einsteigen: Ich habe für diese Analyse insbesondere die letzten verfügbaren Jahres- bzw. Quartalsabschlüsse ausgewertet (welche i.W. die Jahre 1994 bis 2000 bzw. 2001 abdecken), weise aber im Text nochmal explizit darauf hin, wenn bestimmte Auffälligkeiten ggf. bereits früher sichtbar waren.


Recap: Incentivierungen des Managements

Wir wir bereits im ersten Teil der Enron Fallstudie gelernt haben, hatte das Top-Management von Enron (Kenneth Lay, Jeff Skilling, Andrew Fastow und noch einige andere) einen starken Anreiz, den Aktienkurs von Enron immer weiter in die Höhe zu schrauben. Aus einer Sichtweise der Maximierung des Shareholder Value heraus ist das zwar im Grunde genommen auch nicht falsch, wurde aber von den Verantwortlichen komplett überstrapaziert.

Der Aktienmarkt reagiert in vielen Fällen sehr positiv – d.h. mit einer erhöhten Nachfrage nach der Aktie und einem steigenden Kurs – auf den Ausweis eines regelmäßigen und starken Umsatzwachstums.

Das Ganze passiert in der Regel natürlich nur unter der Nebenbedingung, dass die Verschuldung nicht ausufert und es sich grundsätzlich entweder bereits um ein Geschäft mit positiver operativer Marge oder aber um eines mit einer positiven inkrementellen Kapitalrendite bzw. mit attraktiven Unit Economics handelt.

Die Steigerung des Aktienkurses der Enron-Aktie erforderte also im Grunde genommen zweierlei:

  • den regelmäßigen Ausweis einer attraktiven Umsatzsteigerung
  • die Begrenzung der Verschuldung (jedenfalls nach außen hin)
Enron - Incentivierungen des Managements

Wie wir gleich sehen werden, verfolgte das Enron-Management beide Ziele mit einer sehr hohen und wie wir ja wissen auch zerstörerischen und kriminellen Energie.

Und nochmal als Ergänzung: Das Erzielen eines nachhaltig positiven Cash Flows gehört typischerweise nicht zu den Anforderungen des Kapitalmarktes / der Wall Street an ein attraktives Investment (jedenfalls nicht, solange das Wachstum stimmt, die Schulden unter Kontrolle sind und langfristig ein entsprechender Break-Even erwartet wird).

Im weiteren Verlauf dieses Artikels gehen wir auf drei verschiedene Informationsquellen ein, die ein Analyst oder Investor hätte betrachten können, um einen Eindruck von den Geschäften von Enron zu erhalten:

  1. Red Flags in den Jahres- und Quartalsabschlüssen (inkl. der Nutzung von Quervergleichen mit Wettbewerbern bzw. anderen Unternehmen ähnlicher Größenordnung)
  2. Auffälligkeiten in der öffentlichen Kommunikation von Enron und andere öffentliche Informationen
  3. Informationen über Insider-Transaktionen (“Directors’ Dealings”) und Leerverkäufe

Es liegt natürlich irgendwo in der Natur der Sache, dass wir der Analyse der Geschäftszahlen die meiste Aufmerksamkeit widmen. Allerdings waren auch die öffentlichen Auftritte und Handlungen von Ken Lay und Jeff Skilling sowie nachgelagert die Aktionen wesentlicher Marktteilnehmer sehr aufschlussreich.


Enron: Auffälligkeiten in den Jahres- und Quartalsabschlüssen

Beginnen wir einmal mit einem Blick in die offiziellen Veröffentlichungen von Enron.

Wer damals genau hinschaute, könnte in den Jahres- und Quartalsabschlüssen bereits eine ganze Reihe an Auffälligkeiten bzw. Alarmsignalen (“Red Flags”) entdecken. Und wer die Fähigkeit besaß, sich gegen die Mainstream-Meinung der Wall Street zu stellen, hätte auf Basis dieser Erkenntnisse mit Sicherheit auf ein Investment verzichtet (oder die Aktie geshortet, wie z.B. Jim Chanos, Gründer des Hedge Fonds Kynikos Associates, es getan hat).


Umsatzwachstum: Merchant Model und Mark-to-Market Accounting

Um das erste Ziel – ein attraktives Umsatzwachstum – zu erreichen, griff das Enron-Management insbesondere auf zwei Taktiken zurück:

  • die Nutzung des so genannten “Merchant Models” für den Ausweis der Umsatzerlöse: Im Fall von Provisionsgeschäften wurde in der Regel der gesamte Vertragswert als Umsatz ausgewiesen und nicht nur die meist nur wenige Prozent des Vertragswerts betragende Provision (galt z.B. für die ab 1999 / 2000 über die Online-Plattform Enron Online generierten Geschäfte)
  • das so genannte “Mark-to-Market” Accounting, welches die unmittelbare Berücksichtigung zukünftiger kalkulatorischer Gewinne von Langfristverträgen ermöglichte
Enron - Wesentliche Accounting Regeln für den Umsatzausweis

Falsche Nutzung des Merchant Models für den Umsatzausweis

Zum ersten Punkt: Um den gesamten Vertragswert als Umsatz ausweisen zu können, müssen nach IFRS 15 bzw. ASC 606 (US GAAP) bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Der wesentlichste Punkt ist hier, dass Enron die Kontrolle über das Produkt (in dem Fall also das Gas oder den Strom) erlangen musste… nachzuweisen über die Fähigkeit der freien Preisgestaltung, die Übernahme des Bestandsrisikos und die freie Verfügung über das Produkt.

Insbesondere im nicht physischen Handel mit Gas(derivaten) über die Börse (und auch über Enron Online) waren allerdings mutmaßlich viele der o.g. Kriterien nicht erfüllt – wobei ich leider nicht genau weiß, wie der Standard ASC 606 zum damaligen Zeitpunkt genau ausgesehen hat. Offenbar gab es nämlich für einen so genannten “Market Maker”, also jemanden, der im Grunde ein Handelsgeschäft “nur” vermittelt und die Ware deshalb nur für einen Sekundenbruchteil in die eigenen Bücher nimmt, damals ein Wahlrecht bzgl. der Verbuchung von Umsätzen (weil die zuständige Arbeitsgruppe des FASB sich nicht auf eine Bilanzierungslogik festlegen könnte oder wollte).

Nach den heute gültigen Standards hätte man das allerdings wohl folgendermaßen einordnen müssen:

  • Enron hatte keine Möglichkeit, um Einfluss auf den Preis zu nehmen
  • Das Unternehmen nahm das Gas in vielen Fällen auch nicht auf seine eigene Bilanz (oder nur für einen so kurzen Zeitraum, dass sich daraus kein Bestandsrisiko ableiten lassen würde)
  • Bestimmte Strom- und Gasmengen wurden innerhalb eines kurzen Zeitraums mehrmals ge- und verkauft… auch zwischen verschiedenen Gesellschaften des Enron-Konzerns (wofür offenbar immer der volle, also der Bruttoumsatz angesetzt wurde)

Insofern hätte Enron für einen Großteil der Umsätze eigentlich nur den Nettoumsatz ausweisen dürfen… also die Provision, die sich in der Regel größenordnungsmäßig im Bereich von wenigen Prozent des gesamten Vertragswerts bewegt.

Fairerweise muss man allerdings sagen, dass Enrons damalige Wettbewerber (z.B. Dynegy oder El Paso) ihre Umsätze auf die gleiche Art und Weise verbucht haben.

Die zunehmende Nutzung des Merchant Modells lässt sich an der historischen Entwicklung der Bruttomarge denke ich sehr gut ablesen (wobei natürlich auch noch andere Effekte eine Rolle gespielt haben dürften):

Enron - Umsatzentwicklung und Bruttomarge

Entwicklung von Umsatz und Bruttomarge Enron; Quelle: Enron Geschäftsberichte

Wie ihr sehen könnt, erwirtschaftete Enron immer größere Umsätze, allerdings mit konstant rückläufigen Bruttomargen.

Fakt ist aber, dass ein “echtes” Wachstum im Rahmen des bestehenden Geschäftsmodells vermutlich – aufgrund positiver Skaleneffekte – eher zu einer Margenverbesserung hätte führen sollen (konstante bis leicht steigende Bruttomarge plus substantielle Verwässerung der Fixkosten (insbesondere Personal)). Hiervon ist in den Zahlen allerdings nichts erkennbar.

Witzigerweise steht im Brief an die Aktionäre zum Abschluss des Jahres 2000 bzgl. der Erzielung von Skaleneffekten das Folgende:

EnronOnline has enabled us to scale quickly, soundly and economically. Since its introduction, EnronOnline has expanded to include more than 1,200 of our products. It also has streamlined our back-office processes, making our entire operation more efficient. It has reduced our overall transaction costs by 75 percent and increased the productivity of our commercial team by five-fold on average. – Enron Letter to Shareholders, 2000

Selbst wenn die Aussage stimmen sollte, überkompensieren die Effekte nicht die negative Entwicklung der Bruttomarge… inklusive der SG&A und anderer Personalkosten sowie der Abschreibungen ging die operative Marge über die Zeit von 8% auf 2% zurück.


Mark-to-Market Accounting

Das Mark-to-Market Accounting bzw. Fair Value Accounting ist als Bilanzierungsmethode seit Anfang der 1990er Jahre Bestandteil von US GAAP. Enron und andere große Energie- und Rohstoffhändler gehörten damals neben den Banken zu den ersten Anwendern der neuen Regeln.

Ganz simpel ausgedrückt geht es beim Mark-to-Market Accounting um Folgendes: Finanzinstrumente und Derivate wie Futures, Forwards, Swaps oder Optionen müssen unter bestimmten Umständen an jedem Bilanzstichtag zum jeweils aktuellen Marktwert, dem so genannten beizulegenden Zeitwert oder Fair Value, auf der Bilanz erfasst und reportet werden (schaut euch für ein tieferes Verständnis des Konzepts auch einmal den Teil 1 der Fallstudie zur Noble Group an).

Hat sich der beizulegende Zeitwert im Vergleich zum letzten Bilanzstichtag beispielsweise erhöht, wird das in der P&L durch eine entsprechende Zuschreibung reflektiert (d.h. mit anderen Worten: Es wird ein Gewinn eingebucht, um die Werterhöhung auf der Aktivseite der Bilanz auch auf der Passivseite im Eigenkapital zu reflektieren.) Diese Erhöhung wird dann z.B. als “Fair Value Gain” in der GuV angezeigt.

Bei Enron wurden die Effekte auf dem Mark-to-Market Accounting direkt als Bestandteil der Umsatzerlöse verbucht (“Other Revenues”), wie der folgende Auszug aus einem der Geschäftsberichte zeigt:

Enron Mark-to-Market Accounting Policy

Enron schien damals erkannt zu haben, dass die Gewinne mithilfe des Mark-to-Market Accountings leicht manipuliert werden konnten, insbesondere für Kontrakte, deren Marktpreis nur schwer objektiv bestimmbar war (z.B. weil es sich um Forward-Kontrakte mit langer Laufzeit handelte).

Vor allem gegen Mitte der 1990er Jahre machten die auf diese Weise “erwirtschafteten” Umsätze und Gewinne einen substantiellen Teil des Gesamtkuchens aus:

Enron - Entwicklung "andere Umsätze"

Entwicklung “andere Umsätze” Enron [Mio. USD]; Quelle: Enron Geschäftsberichte

Kleiner Disclaimer: Die anderen Umsätze beinhalteten auch die Erträge aus dem Verkauf solcher Kontrakte bzw. Finanzinstrumente sowie auch aus dem Verkauf von anderen Assets (bei Enron als “Merchant Assets” bezeichnet und auf der Bilanz als “Other Assets” ausgewiesen).

Diese Art des Gewinnausweises war insbesondere auch deshalb problematisch, weil damit   alle jemals für ein bestimmten Projekt oder einen bestimmten Kontrakt erwarteten Erträge bereits in der P&L des aktuellen Geschäftsjahren angesetzt wurden. 

Um die Umsätze weiter zu steigern, mussten also immer wieder neue Projekte entwickelt bzw. Kontrakte unterzeichnet werden, die den gesamten Umsatz bzw. Gewinn des Vorjahres kompensieren (und noch etwas mehr)… oder aber Mittel und Wege gefunden werden, um die erwarteten zukünftigen Gewinne aus den bestehenden Kontrakten noch weiter zu steigern (heißt “hochzuschreiben”).

Kurze Anmerkung zum Schluss: Heutzutage ist die Behandlung von Finanzinstrumenten in den Standards IFRS 9 (IFRS) und ASC 815 (US GAAP) geregelt.


Diskrepanz zwischen Gewinn und Cash Flow

Ein sehr interessanter und in den Veröffentlichungen zu Enron oft nur im Hintergrund adressierter Aspekt ist aus meiner Sicht die Entwicklung der operativen und freien Cash Flows über die Zeit.

Zwar haben die Verantwortlichen bei Enron schon darauf geachtet, dass der Nettogewinn nicht nachhaltig oberhalb des operativen Cash Flows liegt (siehe die folgende grafische Darstellung). Trotzdem zeigt die Cash Flow Entwicklung deutlich auf, dass mit dem operativen Geschäft etwas nicht stimmen konnte.

Nettogewinn versus OCF - Enron

Operativer Cash Flow vs. Nettogewinn (zzgl. Abschreibungen, Amort. und Impairments) Enron [Mio. USD]; Quelle: Enron Geschäftsberichte

Kleine Randnotiz: Die Zahlen der Noble Group waren in dieser Hinsicht noch etwas auffälliger. Selbst ohne eine Korrektur der Abschreibungen lag der Nettogewinn bei Noble über einen längeren Zeitraum teilweise substantiell oberhalb des operativen Cash Flow… ein wichtiger Indikator für die Nutzung (zu) aggressiver Accounting-Techniken.

Im Falle von Enron wird das Bild erst etwas klarer, wenn wir uns die Entwicklung der verschiedenen Cash Flow Kennzahlen ansehen. Während sich Nettogewinn und auch operativer Cash Flow in den Jahren zwischen 1994 und 2000 eigentlich immer im positiven Bereich bewegten (was in Wirklichkeit allerdings auch nicht so ganz stimmte), lag der freie Cash Flow, also der operative Cash Flow  nach Berücksichtigung der Nettoinvestitionen,  in vier von sieben Jahren unterhalb der Nulllinie.

Nach einer weiteren Korrektur der freien Cash Flow, nämlich um die erhaltenen Mittelzuflüsse aus dem Verkauf von Vermögenswerten, war der freie Cash Flow sogar in jedem der betrachteten Jahre teilweise stark negativ (im folgenden Schaubild zu sehen an der Entwicklung der dunkelblauen Linie):

Enron - Nettogewinn und Free Cash Flo über Zeit


Entwicklung Nettogewinn und Free Cash Flow über Zeit [Mio. USD]; Quelle: Enron Geschäftsberichte

Ohne Berücksichtigung der Asset-Verkäufe hat Enron über den gesamten Zeitraum zwischen 1994 und 2000 einen kumulierten negativen Cash Flow in der Größenordnung von 15,6 Mrd. USD (!!) erwirtschaftet… dazu kamen nochmal insgesamt 2,5 Mrd. USD an Dividendenzahlungen, die aus dem Unternehmen abflossen.

Über die Zeit mussten also insgesamt ca. 18,1 Mrd. USD irgendwie finanziert bzw. ausgeglichen werden. Dies geschah im Wesentlichen über drei Hebel:

  1. den Verkauf von Vermögenswerten im Wert von insgesamt 9,2 Mrd. USD (so genannte Merchant- und Non-Merchant-Assets) – hierzu weiter unten noch mehr
  2. die Aufnahme neuer Schulden i.H.v. ca. 5,5 Mrd. USD (die Vorzugsaktien habe ich einmal als Verschuldung mitgezählt)
  3. die Ausgabe neuer Aktien – sowohl auf Konzernebene (2,2 Mrd. USD Common Stock), als auch auf der Ebene der Tochtergesellschaften (~2,5 Mrd. USD “Subsidiary Equity”)
Enron - Finanzierung der negativen Free Cash Flows seit 1994


Finanzierung der negativen Free Cash Flows seit 1994 [Mio. USD]; Quelle: Enron Geschäftsberichte

Insgesamt war das Geschäft also alles andere als profitabel… das gilt jedenfalls, wenn man den doch etwas aussagekräftigeren Cash Flow als Maßstab heranzieht.

Ein weiterer interessanter Aspekt: Der freie Cash Flow des Jahres 2000 verbesserte sich im Vergleich zu den Vorjahren substantiell und war am Ende sogar leicht positiv… vielleicht lag es daran, dass Enron im Laufe des Jahres 2000 auf erste Investoren und Analysten reagierte, die die Fähigkeit des Unternehmens zur Cash-Generierung in Frage zu stellen begannen.

Eine echte operative Verbesserung jedenfalls ist aus der Überleitung des Nettogewinns hin zum operativen Cash Flow in dem Jahr nicht ersichtlich. Eher im Gegenteil ist die Verbesserung auf drei individuelle mutmaßlich nicht nachhaltige Einmaleffekte zurückzuführen:

  1. Eine substantielle Freisetzung von Working Capital (~1,8 Mrd. USD)
  2. Mittelzuflüsse aus dem Verkauf von Merchant Assets und Investments (~1,8 Mrd. USD)
  3. Mittelzuflüsse aus anderen operativen Aktivitäten (~1,1 Mrd. USD)
Enron - Überleitung Nettogewinn zu OCF

Überleitung Nettogewinn zu OCF, 2000 [Mio. USD]; Quelle: Enron Geschäftsbericht 2000

Zunächst mal fällt auf, dass einer der drei Effekte – nämlich der Verkauf von Merchant Assets und Investments – nicht wirklich als operativer Cash Flow, sondern eher als Cash Flow aus Investitionstätigkeit klassifiziert werden sollte.

Darüber hinaus gibt das folgende Zitat alle Zusatzinformationen wieder, die sich im Geschäftsbericht als Erklärung für den Cash Flow-Anstieg finden lassen:

Net cash provided by operating activities increased $3,551 million in 2000, primarily reflecting decreases in working capital, positive operating results and a receipt of cash associated with the assumption of a contractual obligation. – Enron Geschäftsbericht 2000, Seite 26

Auf die Ursache der Working Capital-Verbesserung wird also nicht eingegangen, obwohl von der Größenordnung alles andere als vernachlässigbar.

Der Mittelzufluss aus der Übernahme bestimmter vertraglicher Verpflichtungen durch Enron klingt außerdem nicht nach einem operativen Cash Flow, sondern eher nach dem Erhalt von “Restricted Cash” (z.B. Kautionen oder Ähnliches, also Cash, das tatsächlich jemand anderem gehört bzw. für diesen verwahrt wird).

Alles in allem entsteht nach der Analyse der Cash Flow-Entwicklung also kein besonders vertrauenserweckender Eindruck.


Kryptische Erklärungen insbes. von Related Party Transactions in den Footnotes

Dieser Eindruck verstärkt sich sogar noch, wenn wir uns etwas genauer mit den oben angerissenen Asset-Verkäufen auseinandersetzen. Enron arbeitete in den Geschäftsberichten nämlich mit einer ganzen Reihe von Querverweisen zwischen den verschiedenen Anhängen, die das Verständnis einzelner Transaktionen bzw. Geschäftsvorfälle enorm erschwerten.

Beispielsweise wurden die Asset-Verkäufe im Anhang Nr. 4 angerissen. Die zugehörigen Transaktionen in den Jahren 1999 und 2000, z.B. mit dem Unternehmen Whitewing Associates LP,  wurden dann zu einem gewissen Teil im Teil 9 des Anhangs beschrieben. Für wesentliche, für das Verständnis des Vorgangs wichtige Informationen wurde dann allerdings wieder auf die Anhänge 3 und 16 querverwiesen.

Darüber hinaus wurden in jedem Anhang andere Zahlen genannt. Ein genaues Verständnis der Transaktionen war somit quasi unmöglich.

Enron - Kryptische Footnotes

Beispiel für Querverweise in den Footnotes des Enron-Geschäftsberichts, 2000

Zwei, drei sehr wesentliche Dinge können wir aus der Lektüre der beschriebenen Footnotes allerdings dennoch mitnehmen:

Zum einen, dass die Verkäufe der Merchant Assets zum Großteil an Unternehmen erfolgten, die sich  mindestens teilweise ebenfalls im Besitz von Enron befanden  (wobei nicht klar wird, wie diese Käufe von diesen “Related Parties” genau finanziert wurden).

Und zum zweiten, dass es sich beim General Partner der Related Parties  um einen hochrangigen Enron-Mitarbeiter handelte  (der Name von CFO Andrew Fastow war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Geschäftsberichts in diesem Zusammenhang aber noch nicht gefallen):

2000 and 1999, Enron entered into transactions with limited partnerships (the Related Party) whose general partner’s managing member is a senior officer of Enron. – Enron-Geschäftsbericht Anhang Nr. 16

Ich war übrigens nicht der erste, der Probleme mit dem Verständnis der Footnotes in den Enron-Berichten hatte. Investoren mit weitaus mehr Erfahrung ereilte damals das gleiche Schicksal, wie zwei Kommentare aus der damaligen Zeit verraten.

Hier einmal ein Statement von Short Seller Jim Chanos:

We read the footnotes in Enron’s financial statements about these transactions over and over again and we could not decipher what impact they had on Enron’s overall financial condition. It did seem strange to us, however, that Enron had organized these entities for the apparent purpose of trading with their parent company, and that they were run by an Enron executive. – Jim Chanos zu den Erklärungen in den Footnotes

Und hier ein Kommentar von Investoren-Legende Warren Buffett:

Second, unintelligible footnotes usually indicate untrustworthy management. If you can’t understand a footnote or other managerial explanation, it’s usually because the CEO doesn’t want you to. Enron’s descriptions of certain transactions still baffle me. – Warren Buffett, Berkshire Hathaway Shareholder Letter 2002

Auch wenn die Informationen durch die Erwähnung als Halbsatz in irgendeiner Fußnote von Enron als eher nachrangig bzw. unwichtig dargestellt wurden: Der aus den oben beschriebenen Anhängen herauszulesende Interessenskonflikt musste von Analysten und Investoren eigentlich als Warnsignal mit großem Ausrufezeichen interpretiert werden (bzw. jedenfalls zu weiteren und tiefergehenden Nachforschungen bzgl. der Related Party Transactions bei Enron führen).


Quervergleiche mit Wettbewerbern bzw. anderen Konzernen

Eine weitere Analyse, die sich im Zusammenhang mit einem möglichen Bilanzbetrug bei Enron anbot, war der Quervergleich mit relevanten Wettbewerbern bzw. vergleichbaren Unternehmen. Aufgrund der am Umsatz gemessenen Größe, die Enron im Jahr 2000 erreichte, bot sich ein Vergleich mit anderen US-amerikanischen Großunternehmen an.

Das Forbes-Magazin beispielsweise hat damals für den Artikel “Enron The Incredible” aus dem Jahr 2002 einmal die erwirtschafteten Umsätze je Mitarbeiter für das Jahr 2000 analysiert:

Enron Red Flags Vergleich mit anderen Großunternehmen

Vergleich der spezifischen Umsätze von Enron mit denen anderer Großunternehmen, 2000; Quelle: Forbes – Enron The Incredible

Laut der Analyse erwirtschaftete Enron pro Mitarbeiter mehr als zweieinhalb mal so viel, wie das nächstbeste Unternehmen (ExxonMobil). Enron war also offenbar das mit weitem Abstand produktivste Unternehmen überhaupt. Ein weiteres Indiz dafür, dass mit den Zahlen eigentlich etwas nicht stimmen konnte.

Auffällig war in dem Zusammenhang, dass Enron nach dem substantiellen Umsatzanstieg des Jahres 2000 (der ja wie oben erläutert mutmaßlich auf die falsche Nutzung des Merchant Modells zurückzuführen war) auch im Quervergleich nur eine verschwindend geringe Nettomarge von ca. 1% ausweisen konnte (entsprach wie oben gezeigt einer operativen Marge von ~2% und einer Bruttomarge von ~6%):

Vergleich Nettomarge Enron mit anderen Blue Chips

Vergleich Nettomarge verschiedener US-Konzerne im Jahr 2000 [%], Quelle: CNN Money

Diese Marge war – selbst nach den Maßstäben eines typischen Rohstoffhändlers zu urteilen – als sehr gering einzuschätzen. Bezogen auf die Bilanzsumme konnte Enron eine Kapitalrendite (Return on Capital Employed) von ca. 3-5% erwirtschaften (ca. 7% im Jahr 1999)… ebenfalls ein sehr geringer Wert.

Wie passte das mit der angeblich so hohen Personalproduktivität zusammen?

Hier ein Kommentar von Short Seller Jim Chanos zu Enron’s Kapitalrendite im Jahr 1999:

This is important for two reasons; first, we viewed Enron as a trading company that was akin to an “energy hedge fund.” For this type of firm, a 7 percent return on capital seemed abysmally low, particularly given its market dominance and accounting methods. Second, it was our view that Enron’s cost of capital was likely in excess of 7 percent and probably closer to 9 percent, which meant from an economic point of view, that Enron wasn’t really earning any money at all, despite reporting “profits” to its shareholders. – Jom Chanos im Jahr 2003 bei einem Roundtable der SEC

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Geschäftsberichte von Enron im Grunde bereits die eine oder andere deutliche Schlussfolgerung zuließen. Aber das war noch nicht alles.


Auffälligkeiten in der öffentlichen Kommunikation

Nicht nur die Geschäftsberichte steckten voller auffälliger Formulierungen und Inkonsistenzen. Auch die öffentliche Kommunikation von Lay und Skilling und Co. warf durchaus einige Fragen auf.

Kritische Anmerkungen von Journalisten, Investoren oder Analysten beispielsweise wurden in Earnings Calls oder Interviews in der Regel nicht besonders positiv aufgenommen. Das übliche Prozedere bestand dann typischerweise darin, die Fragesteller als unwissend und / oder böswillig darzustellen. Hier ein Beispiel aus einem der Earnings Calls im Jahr 2001:

People who raise questions are people who have not gone through [our business] in detail and who want to throw rocks at us. – Jeff Skilling

Um kritischen Fragen in gewisser Weise sogar vorzubeugen, stellte Skilling das Geschäftsmodell von Enron in Richtung der Analysten regelmäßig als sehr klar und einfach nachvollziehbar dar:

[Enron is] very simple to model. – Jeff Skilling

Was er mutmaßlich eigentlich sagen wollte: Wer blöde Fragen stellte, weil er das Geschäftsmodell nicht verstand, war im Grunde genommen einfach nicht clever genug und sollte deshalb – um das Gesicht zu wahren – am besten gar nicht nachfragen.

Je mehr sich insbesondere Jeff Skilling allerdings den kritischen Fragen von Analysten und Investoren ausgesetzt sah, desto schlechter konnte er damit umgehen und desto aggressiver und konfrontativer wurden seine Antworten. In einem gut dokumentierten Fall im April 2001 platzte ihm tatsächlich einmal der Kragen (was darauf schließen lässt, dass der Fragesteller Richard Grubman hier einen wunden Punkt getroffen hatte):

Conference Call Enron: Diskussion Skilling Grubman

Transcript des Wortwechsels zwischen Richard Grubman (Highfield Capital) udn Jeff Skilling im Rahmen des Earnings Calls am 17.4.2001

Darüber hinaus was auffällig, dass Enron’s Top-Manager immer einen sehr starken Fokus auf den Aktienkurs legten. Heutzutage ist das kaum mehr vorstellbar, aber Skilling rechnete den Analysten und Investoren bei einem Analysten-Meeting in Houston im Januar 2001 tatsächlich vor, welchen Wert sie den Geschäftsteilen von Enron beimessen sollten. Hier der Auszug eines Fortune-Artikels mit der entsprechenden Beobachtung:

At a late-January meeting with analysts in Houston, the company declared that it should be valued at $126 a share, more than 50% above current levels. […] Included in the $126 a share that Enron says it’s worth is $40 a share—or $35 billion—for broadband. – Fortune: Is Enron Overpriced?

Allein das gerade gestartete Broadband-Geschäft, das im Grunde genommen damals nicht viel mehr war, als eine Ankündigung auf einem Blatt Papier, sollte laut Skilling 40 USD je Aktie wert sein. Der Gesamtwert von Enron sollte in der Größenordung von 126 USD je Aktie liegen (zu dem Zeitpunkt lag der Aktienkurs irgendwo in der Größenordnung von 80 USD je Aktie).

Auch zu diesem Thema gibt es ein entsprechendes Zitat von einem bekannten Investor:

Be wary of companies where top executives seem more interested in talking up the company’s stock price than running the business. – Pat Dorsey von Dorsey Asset Management


Aktionen anderer Marktteilnehmer

Neben den Red Flags in den offiziellen Enron-Dokumenten und der auffälligen Kommunikation nach außen hin, gab es noch weitere Warnsignale, die einem aufmerksamen Beobachter hätten auffallen können.


Substantielle Insider-Verkäufe

Beispielsweise kam in den Jahren ab 1999 zu umfangreichen Insidergeschäften. Laut der New York Times verkauften 29 Enron-Manager (!!) zwischen 1999 und 2001 insgesamt Enron-Aktien im Wert von über einer Mrd. USD:

As Enron stock climbed and Wall Street was still promoting it, a group of 29 Enron executives and directors began to sell their shares. These insiders received $1.1 billion by selling 17.3 million shares from 1999 through mid-2001, according to court filings based on public records. They continued selling just before Enron’s stock started to tumble early last year and the company began its slide into bankruptcy protection. – New York Times, 13. Januar 2002

Allein die Verkäufserlöse der sechs aktivsten Insider (unter ihnen Chairman, CEO und CFO) summierten sich auf ca. 700 Mio. USD:

Insider-Verkäufe Enron-Manager

Insiderverkäufe Enron-Manager zwischen 1999 und 2001 [Mio. USD]

Wenn man sich diese Zahlen anschaut ist eigentlich kaum vorstellbar, dass z.B. Jeff Skilling wirklich an seine Preisprognose von 126 USD je Aktie und die damit verbundene Unterbewertung geglaubt haben könnte. Auf der Basis hätte das Management ja eigentlich immer mehr Enron-Aktien hinzukaufen müssen. Auch dieser Umstand stellte ein deutliches Warnsignal dar.


Hohe Leerverkaufspositionen

Analog zu den Anteilsverkäufen der Enron-Insider sprach auch die Entwicklung der zwischen Mitte 2000 und Ende 2001 eingegangenen Leerverkaufspositionen eine deutliche Sprache.

Diese stiegen von ca. 2 Mio. Stück im August 2000 zunächst auf ca. 8 Mio. Stück zum Jahresende 2000 und anschließend auf ca. 33 Mio. Stück im Oktober 2001 an (was ca. 4-5% der gesamten ausstehenden Aktien entsprach).

Allerdings muss man dazu sagen, dass es im Oktober 2001 bereits etwas zu spät war, um zu erkennen, dass mit dem Enron-Accounting etwas nicht ganz stimmen konnte.


Gescheiterte Fusionsgespräche mit Wettbewerbern (VEBA)

Den Punkt der gescheiterten Fusionsgespräche mit der Veba Oil hatte ich im ersten Teil der Fallstudie ja schonmal angesprochen.

Einem Bericht der New York Times aus dem Oktober 1999 zufolge wollte Enron 1999 mit der damaligen Veba fusionieren. Dem Bericht zufolge kam die Fusion unter anderem deshalb nicht zu Stande, weil deren Berater, PricewaterhouseCoopers (PWC), der Veba mitgeteilt hatte, dass die Schulden von Enron vermutlich  um einen zweistelligen Millionenbetrag höher waren  als in den Meldungen an die Börsenaufsicht ausgewiesen.

Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, sollen sich die PWC-Berater in den zwei Wochen ihrer Untersuchung nur auf die Analyse von öffentlich zugänglichem Material beschränkt haben. Eine Due Diligence mit Zugang zu internen Enron-Daten etc. hatte also explizit noch nicht stattgefunden.


Key Take Aways

Um ein besseres Verständnis über die Qualität des Geschäftsmodells und die Nachhaltigkeit der Gewinne (“Quality of Earnings”) zu erlangen, hätte ein Analyst damals wie heute u.a. die folgenden outside-in verfügbaren Informationsquellen nutzen können:

  1. Regelmäßige Analyse der Jahres- und Quartalsabschlüsse (inkl. der Nutzung von Quervergleichen mit Wettbewerbern bzw. anderen Unternehmen ähnlicher Größenordnung)
  2. Beobachtung der öffentlichen Kommunikation und anderer frei zugänglichen Informationen
  3. Auswertung der Informationen über Insider-Transaktionen (“Directors’ Dealings”) und Leerverkäufe

In allen Informationsquellen hätte ein Analyst mit einem Interesse an Enron bereits damals eine ganze Reihe an Red Flags bzw. Warnhinweisen entdecken können. Allerdings haben sich für lange Zeit nur wenige dem Herdentrieb der Wall Street entziehen können.

Summa summarum scheint es im Allgemeinen manchmal einfacher zu sein, der Meinung der großen Masse zu folgen, als an seine eigene unter Umständen sehr detaillierte Analyse oder Meinung zu glauben.

In den nächsten Teilen der Fallstudie steige ich dann in die konkrete Funktionsweise der wesentlichen verwendeten Manipulationstechniken ein (insbesondere das Mark-to-Market Accounting sowie die Nutzung von Special Purpose Entities zur Verschiebung von Schulden).


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