Aufgrund unterschiedlicher Rechnungslegungsvorschriften kommt es regelmäßig zu Abweichungen der ausgewiesenen Gewinne in Handels- und Steuerbilanz. Im Jahresabschluss können wir diese Unterschiede an verschiedenen Positionen in der Bilanz und der Kapitalflussrechnung erkennen, u.a. auch an der Position “latente Steuern”.
In diesem Artikel möchte ich nun einmal etwas detaillierter darauf eingehen, was latente Steuern genau sind, wie diese entstehen und aus welchem Grund diese für unser Verständnis des Geschäftsmodells und die Unternehmensbewertung nicht ganz unwichtig sind.
Was sind latente Steuern genau?
Technisch gesehen entstehen latente Steuern aus Differenzen zwischen den in Handelsbilanz und Steuerbilanz ausgewiesenen Steuern. Bei der Handelsbilanz handelt es sich um den uns bekannten Jahresabschluss aus dem Geschäftsbericht. Der Jahresabschluss dient typischerweise dazu, den Anteilseignern und Kreditgebern eine Übersicht über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu geben. Die Steuerbilanz hingegen repräsentiert den Abschluss für die Steuerbehörden bzw. das Finanzamt. Dieser ist hauptsächlich dazu gedacht, die zu zahlenden Steuern des abgelaufenen Geschäftsjahres zu ermitteln.
Grundsätzlich können wir zwei Arten von latenten Steuern unterscheiden:
- Aktive latente Steuern (Deferred Tax Assets oder DTAs)
- Passive latente Steuern (Deferred Tax Liabilities oder DTLs)
Aktive latente Steuern entstehen, wenn die laut Steuerrecht zu zahlenden Steuern die laut Handelsrecht bzw. Gewinn- und Verlustrechnung ermittelten Steuern übersteigen. Passive latente Steuern entstehen, wenn die laut Steuerrecht zu zahlenden Steuern niedriger sind, als in der GuV ausgewiesen:
Oft werden latente Steuern in der Bilanz übrigens nur als Nettoposition (meistens als passive latente Steuer, also als Steuerverbindlichkeit) aufgeführt. In einem solchen Fall müssen wir dann schon in die Notes bzw. den Anhang zum Jahresabschluss schauen, um den aktiven Part, z.B. die latenten Steuern auf Verlustvorträge, zu identifizieren.
Bei allen diesen Dingen handelt es sich übrigens um so genannte – aktive oder passive – Abgrenzungsposten in der Bilanz.
Unterschiede zwischen Handels- und Steuerrecht
Die ursprüngliche Ursache für latente Steuern liegt also in unterschiedlichen Rechnungslegungsvorschriften in Handels- und Steuerrecht begründet. Das heißt konkret: Aufgrund abweichender Vorschriften kommen beide Rechnungen zu unterschiedlichen Vorsteuergewinnen… und deshalb – bei gleichem Grenzsteuersatz – auch zu unterschiedlichen Steuern.
Wie oben bereits angedeutet, haben Handels- und Steuerbilanz unterschiedliche Adressaten, nämlich Kapitalgeber auf der einen und Steuerbehörden auf der anderen Seite. Kapitalgeber wünschen sich eher eine periodengerechte Zuordnung von Umsätzen und zugehörigen Kosten/Aufwendungen. Umsätze als auch Aufwendungen werden – unabhängig davon, ob das Geld bereits geflossen ist – in der Periode angesetzt, in der die Leistung erbracht wurde. Steuerbehörden haben ihr eigenen Regeln, wobei man sagen kann, dass diese eher auf tatsächlichen Zahlungsflüssen basieren.
Aktive latente Steuern (Deferred Tax Assets oder DTAs)
Die aktiven latenten Steuern finden wir auf der Aktivseite der Bilanz. Es handelt sich dabei also um einen Vermögenswert. Dieser Vermögenswert entsteht genau dann, wenn das Unternehmen bereits Steuern auf Gewinne gezahlt hat, die in der Gewinn- und Verlustrechnung des Jahresabschlusses noch gar nicht realisiert wurden. Das Unternehmen hat also unter Umständen bereits Geld erhalten, die Leistung aber noch nicht erbracht.
Die gleiche Logik greift für Rückerstattungen aus Verlusten, die in der abgelaufenen Periode noch nicht mit Gewinnen verrechnet werden konnten sowie bei Aufwendungen, die steuerrechtlich noch nicht ansetzbar sind.
Ursachen für aktive latente Steuern
Es gibt eine ganze Reihe an steuerrechtlichen Bilanzierungsregeln, bei denen es Abweichungen zum Handelsrecht geben kann. Hier sind die üblichsten Ursachen (von mir subjektiv nach Relevanz geordnet):
- Verlustvorträge (Net Operating Losses oder NOLs)
- Realisierung von Aufwendungen in der GuV bevor der Zahlungsmittelabfluss stattfindet, z.B. Drohverlustrückstellungen, Gewährleistungen (Warranties), Rückstellungen für uneinbringliche Forderungen, Bewertung von Beständen (LIFO vs. FIFO), etc.
- Unverdiente Erträge: Zahlungsmittelzufluss bevor ein Umsatz realisiert, also die Leistung erbracht wurde (Unearned bzw. Deferred Revenue)
- Eher selten: Unterschiedliche Abschreibungsregeln (lineare Abschreibung im Steuerrecht, degressive Abschreibung im Handelsrecht) oder Nutzungsdauern von Vermögenswerten (lange Nutzungsdauern im Steuerrecht, kurze im Handelsrecht)
Mögliche Ursachen für aktive latente Steuern (Deferred Tax Assets)
Auf das Thema Verlustvorträge bin ich bereits in meinem Artikel zur Abschätzung des zukünftigen Steuersatzes für die Bewertung etwas näher eingegangen.
In der Handelsbilanz ansetzbare Rückstellungen für erwartete Gewährleistungen oder zukünftig erwartete Zahlungsausfälle bzw. Aufwendungen können im Steuerrecht in der Regel noch nicht angesetzt werden, sondern greifen erst, wenn das Ereignis auch tatsächlich eintritt… also wenn das defekte Produkt tatsächlich ausgetauscht wurde, die Miete tatsächlich ausgefallen ist oder der Anwalt tatsächlich die Rechnung geschickt hat.
Die umgekehrte Logik gilt für unverdiente Erträge: Da die Leistung noch nicht erbracht wurde, erfolgt noch kein Ausweis des Umsatzes bzw. Gewinns in der GuV. Steuerrechtlich erfolgt allerdings bereits eine Berücksichtigung des Zahlungseingangs. Mehr dazu im Beispiel weiter unten.
Eine Erläuterung der Ursachen für Deferred Tax Assets finden wir meist in den Geschäftsberichten. Hier z.B. ein Auszug aus dem GB der Tick Trading Software AG (2017/18):
Die Vermietung dieser Flächen konnte bisher nur teilweise erreicht werden und führte aufgrund der daraus resultierenden Doppelmietbelastung zu der Einstellung einer Drohverlustrückstellung in Höhe von 130 TEUR und aktiver latenter Steuern in Höhe von 41 TEUR.
Im Folgenden möchte ich die Bilanzierung von (aktiven) latenten Steuern einmal anhand eines einfachen Beispiels erläutern.
Beispiel: Aktive latente Steuern
Stellt euch vor ihr habt ein Geschäft mit sehr gut prognostizierbaren Cash Flows und monatlichen Zahlungen, z.B. eine Software im Abo-Modell (daher auch das Netflix-Bild am Anfang 🙂 ) oder eine vermietete Immobilie.
Für diese Software oder diese Immobilie erhaltet ihr jeden Monat eine Nutzungsgebühr bzw. Miete von 1.000 EUR, also insgesamt 12.000 EUR pro Jahr. Die gesamten operativen und nicht-operativen Kosten (i.W. Fremdkapitalzinsen) betragen ca. 9.600 EUR.
Nun ist es im aktuellen Jahr so gewesen, dass ihr die Nutzungsgebühr für den Monat Januar des Folgejahres bereits im Dezember erhalten habt. Das heißt der Zahlungsmittelzufluss betrug in diesem Jahr nicht 12.000 EUR, sondern 13.000 EUR.
Handelsrechtlicher versus steuerrechtlicher Gewinn
Auf Basis welches Vorsteuergewinns würdet ihr nun die Steuerbelastung und den Nettogewinn ermitteln?
Hier kommen nun die Unterschiede zwischen Handelsbilanz und Steuerbilanz ins Spiel. Im Rahmen der Handelsbilanz wird der so genannte Periodengewinn ermittelt. Der zugehörige Umsatz basiert auf der erbrachten Leistung, nämlich der Bereitstellung der Software oder der Immobilie für einen Zeitraum von 12 Monaten (12 Monate = 12.000 EUR Umsatz).
In der Steuerbilanz hingegen wird der Zahlungseingang für den Januar des Folgejahres bereits zur Ermittlung der Ertragssteuern herangezogen.
Wie ihr anhand der folgenden Abbildung erkennen könnt, ergibt sich bei unveränderten Aufwendungen in Höhe von 9.600 EUR und einem Steuersatz von 30% ein Unterschied im Vorsteuergewinn von 1.000 EUR (3.400 in der Steuerbilanz, 2.400 in der Handelsbilanz) sowie in der Ertragssteuerbelastung von 300 EUR (1.020 in der Steuerbilanz, 720 in der Handelsbilanz):
Da die Differenz aus der Vorauszahlung für das kommende Jahr resultiert, wissen wir bereits, dass sich der Effekt im Folgejahr umkehren wird. Während in der Handelsbilanz alles unverändert bleibt, berücksichtigt die Steuerbilanz nur einen Zahlungseingang von 11.000 EUR… 1.000 EUR wurden ja bereits im Vorjahr angesetzt und versteuert.
Bilanzeffekte
Die Auswirkungen auf die Bilanz können wir ebenfalls recht einfach nachvollziehen.
Im ersten Jahr kann das Unternehmen die Vorauszahlung der Nutzungsgebühr noch nicht ins Eigenkapital verrechnen, da ja der zugehörige Umsatz noch nicht gebucht bzw. realisiert wurde. Um trotzdem eine ausgeglichene Bilanz zu gewährleisten, führt das Unternehmen auf der Passivseite eine Gegenposition zum Cash genannt “Unverdienter Ertrag” (im Englischen Deferred Revenue bzw. Unearned Revenue) ein.
Von den gezahlten Steuern in Höhe von 1.020 EUR (negativer Cash Effekt) werden nur 720 EUR als negativer Effekt im Eigenkapital sichtbar. Die Differenz von 300 EUR wird in einer Position genannt “Aktive latente Steuern” (im Englischen Deferred Tax Assets) festgehalten.
Hier einmal die Umsatz- und Steuereffekte auf die Bilanz in der grafischen Darstellung (da die Kostenseite für beide Perioden unverändert bleibt, habe ich diese hier übrigens nicht separat dargestellt):
Im Folgejahr sehen wir dann wie erwartet eine Umkehr der Effekte. Das heißt die Positionen “Unverdienter Ertrag” und “Latente Steuern” werden wieder aufgelöst, weil sich die Cash-Effekte umkehren. Auf das Eigenkapital bzw. den handelsrechtlichen Gewinn hat beides wie ihr sehen könnt keinen Einfluss.
Passive latente Steuern (Deferred Tax Liabilities oder DTLs)
Bei den passiven latenten Steuern handelt es sich um eine Verbindlichkeit, die dem entsprechend auf der Passivseite der Bilanz zu finden ist. Die Verbindlichkeit entsteht, wenn das Unternehmen in der GuV bereits Gewinne realisiert hat, diese allerdings noch nicht versteuert wurden.
Hier einmal einige typische Ursachen für passive latente Steuern bzw. Deferred Tax Liabilities:
- Unterschiedliche Abschreibungsregeln (degressive Abschreibung im Steuerrecht, lineare Abschreibung im Handelsrecht)
- Verschiedene Abschreibungsdauern (beschleunigte Abschreibung im Steuerrecht)
- Realisierung von Umsätzen und Gewinnen, aber noch kein Zahlungsmittelzufluss (Accrued Revenue)
- Zahlungsmittelabfluss bevor Aufwendungen in der GuV realisiert wurden, z.B. resultierend aus der Bewertungslogik von Lagerbeständen (FIFO versus LIFO)
Die am weitesten verbreitete Ursache für passive latente Steuern sind Unterschiede bei Abschreibungsregeln und Nutzungsdauern von Vermögenswerten. Das Steuerrecht erlaubt hier regelmäßig eine schnellere Abschreibung von Investitionen, was in den ersten Jahren im Vergleich zur GuV zu niedrigeren Gewinnen und Steuerzahlungen führt.
Spezielles Augenmerk sollten wir als Investoren auf Umsätze und Gewinne richten, die (noch) nicht zu Zahlungsmittelzuflüssen geführt haben. Hier ergibt sich nämlich für Unternehmen ein gewisser Spielraum für die legale Bilanzmanipulation.
Ein gutes Beispiel zu den beiden oben genannten Punkten kommt von Warren Buffett. Im Berkshire Hathaway Shareholder Letter 2019 schreibt er:
[…] about $14.7 billion of our $50.5 billion of deferred taxes arises from the unrealized gains in our equity holdings. These liabilities are accrued in our financial statements at the current 21% corporate tax rate but will be paid at the rates prevailing when our investments are sold. Between now and then, we in effect have an interest-free “loan” that allows us to have more money working for us in equities than would otherwise be the case.
A further $28.3 billion of deferred tax results from our being able to accelerate the depreciation of assets such as plant and equipment in calculating the tax we must currently pay. The front-ended savings in taxes that we record gradually reverse in future years. We regularly purchase additional assets, however. As long as the present tax law prevails, this source of funding should trend upward.
Die Effekte aus beschleunigten Abschreibungen kehren sich also im Laufe der Jahre um… nämlich dann, wenn die Vermögenswerte in der Steuerbilanz bereits abgeschrieben sind und den zu versteuernden Gewinn nicht mehr mindern.
Wenn sich das Unternehmen noch in der Wachstumsphase befindet und auf absehbare Zeit hohe Investitionen erwartet werden, dann ist außerdem eine Verschiebung der Steuerzahlungen in die fernere Zukunft wahrscheinlich. Eine Auflösung der DTL sollten wir in unserem DCF-Modell also ggf. mit einem Abschlag berücksichtigen.
Zusammenfassung
Latente Steuern entstehen aus unterschiedlichen Rechnungslegungsvorschriften in Handels- und Steuerrecht. In bestimmten Fällen erlaubt die Gesetzgebung für die Berechnung des steuerrechtlich maßgeblichen Gewinns also die Anwendung etwas anderer Regeln.
Dies führt in der Praxis sowohl zu Steuergutschriften als auch Steuerverbindlichkeiten. Steuergutschriften, auch aktive latente Steuern genannt, entstehen, wenn die zu zahlenden Steuern laut Steuerrecht die in der GuV ausgewiesenen Steuern übersteigen. Bei Steuerverbindlichkeiten oder passiven latenten Steuern ist es genau umgekehrt.