Einige von euch werden den Namen Hoechst AG von früher noch kennen oder mindestens schon einmal davon gehört haben. In den 1980er Jahren war das nach dem Frankfurter Stadtteil Hoechst benannte Unternehmen einer der größten und erfolgreichsten Chemie- und Pharmakonzerne weltweit. Leider führten in den 1990er Jahren mehrere falsche strategische Entscheidungen (bzw. falsche Personalentscheidungen) zur Zerschlagung der Hoechst AG.
Im Buch Goodbye Hoechst wird die Entwicklung der Hoechst AG bis zur Zerschlagung in den späten 1990er Jahren nachgezeichnet. Der Autor von Goodbye Hoechst, Karl-Gerhard Seifert, ist ein Insider, der die Geschehnisse im Unternehmen als damaliger Teil des Vorstands hautnah mitbekommen und dokumentiert hat. Im Buch finden sich deshalb an vielen Stellen auch Gesprächsnotizen von Seifert selbst sowie Abschriften aus Zeitungsartikeln, Analystenberichten und Mitarbeiterbriefen an den Aufsichtsrat.
Take Aways: Warum ihr Goodbye Hoechst unbedingt lesen solltet
Zunächst mal muss ich sagen: Unabhängig davon, ob Goodbye Hoechst auch aus Investorensicht interessant ist (was es aus meiner Perspektive auf jeden Fall ist), wird in dem Buch ein wesentliches Stück deutsche Industriegeschichte behandelt. Allein die Beschreibung der Vorkommnisse aus Sicht eines Insiders ist bereits überaus spannend.
Hier aber darüber hinaus einmal die wesentlichen Gründe, weshalb ich das Buch auch jedem DIY Investor bzw. Value Investor empfehlen würde:
- Es werden einige Details zur Funktionsweise von Pharmaunternehmen beschrieben, u.a. typische Entwicklungsstufen, die Wichtigkeit von Forschung & Entwicklung, die Vor- und Nachteile einer zentralen vs. einer dezentralen F&E-Abteilung
- Es gibt darüber hinaus einige Parallelen zu Bayer. Schon in den 1990ern hat Hoechst z.B. einen Zusammenschluss mit Monsanto diskutiert und wollte sich in ein Life Science Unternehmen (bestehend aus Pharma- und Landwirtschaftsgeschäft) transformieren
- Es wird sehr deutlich, welchen Stellenwert die Unternehmenskultur für ein Unternehmen hat und wie schnell die falschen Manager (auf Vorstandsebene und darunter) eine an sich gute Unternehmenskultur zerstören können
- Es wird klar, wie typischerweise das Zusammenspiel zwischen Management bzw. Vorstand und Aufsichtsrat funktioniert und welches Gewicht hier dem AR-Vorsitzenden zukommt… und was passiert, wenn Aufsichtsräte dem Vorsitzenden blind vertrauen und dieser ein zu enges Verhältnis zum CEO hat
- Es kommt heraus, wie bei M&A-Transaktionen getrickst wird und mit den Unternehmenswerten gespielt wird, um strategisch wichtige Mergers nicht absagen zu müssen… das Ganze natürlich auf dem Rücken der Aktionäre
- Es wird klar, dass in tieferer Blick in die Zahlen und ein genaues Verständnis über die Zusammensetzung des Nettogewinns (Stichwort Sondereffekte und Financial Engineering) vermutlich gezeigt hätte, dass Kapitalmarkt- bzw. Investoren-Kommunikation und Realität nicht ganz zusammenpassen
Und was noch erwähnt werden sollte: Das, was in Goodbye Hoechst so detailliert beschrieben wird, kann aus meiner Sicht heutzutage in Großkonzernen nach wie vor passieren. Die Wirkmechanismen in den Unternehmen und auch die Incentivierungen der Führungskräfte sind in vielen Fällen unverändert.
Kurzer Blick ins Buch
Das Buch Goodbye Hoechst ist ein sehr spannendes Buch, in dem Autor Karl-Gerhard Seifert schonungslos und detailliert die Entwicklungen beschreibt, die zur Zerschlagung (oder wir auch immer man das nennen mag) der Hoechst AG gegen Ende der 1990er Jahre geführt haben.
Ausbau des Pharmageschäfts
In den 1980er Jahren war Hoechst einer der größten Chemiemischkonzerne weltweit mit einem großen Pharma- und auch einem nicht zu vernachlässigenden Landwirtschaftsgeschäft. Hoechst war außerdem ein gesundes und profitables Unternehmen.
Es hat den Anschein, als wollte Hoechst damals speziell das Pharmageschäft in den USA ausbauen, denn es wurden mehrere Übernahmen im Pharma-Bereich getätigt (Celanese, Copley für ca. 1 Mrd. USD, Marion Merrell Dow bzw. MMD für ca. 10 Mrd. USD), wobei die schlussendliche Übernahme von MMD nur durchgeführt wurde, weil die ersten zwei nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten.
Ab diesem Zeitpunkt fing Hoechst auch damit an, in der Kommunikation zum Kapitalmarkt mit unrealistischen Zielen zu arbeiten. Es wurden zwei Blockbuster pro Jahr angekündigt und das obwohl MMD nicht gerade für seine exzellente Pharmaforschung bekannt war. Eher im Gegenteil hatte MMD eigentlich nur eine gute Vertriebsorganisation für den US-Markt zu bieten.
Im Rahmen der von den ehemaligen Managern der MMD geleiteten “Integration” wurde dann auch noch die eigentlich gut funktionierende Pharmaforschung in Hoechst demontiert, indem der Sitz der zentralen Forschung in die USA verlagert und die F&E-Abteilung einem wenig erfahrenen Manager der ehemaligen MMD unterstellt wurde (wie gesagt hatte MMD eigentlich gar keine entsprechende Forschung).
Nachdem die Gewinne nicht wie geplant realisiert werden konnten, wurde ein Kostenprogramm aufgelegt, in dessen Zuge mehrere Tausend Stellen – auch und vor allem in der Forschung – abgebaut wurden. Es ging dabei offensichtlich vor allem darum, die kurzfristig kommunizierten Ziele zu erreichen. Langfristig erwies man mit der Kürzung dem Pharmageschäft aber einen Bärendienst.
(Geplanter) Umbau zum Life Science Konzern
Nachdem sich die Ergebnisse des Pharmageschäfts innerhalb kurzer Zeit signifikant verschlechterten (die zwei Blockbuster pro Jahr wären selbst mit einer gut funktionierenden und gut ausgestatteten Forschung fast nicht zu realisieren gewesen), musste eine neue Strategie her und man kam auf die Idee, einen Life Science Konzern nach dem Vorbild der damaligen Novartis zu formen… also einen Konzern bestehend i.W. aus Landwirtschafts- und Pharmageschäft.
Spätestens hier wird klar, dass zu diesem Zeitpunkt die Jobsicherheit und das Prestige des Vorstandsvorsitzenden ebenfalls eine gewichtige Rolle für die strategischen Entscheidungen gespielt haben muss.
Zur Umsetzung der Life Science Vision wurden im Geheimen Gespräche mit Monsanto über eine Zusammenlegung der Pharma- und Landwirtschaftsaktivitäten geführt (Projekt “Hello”) und gleichzeitig der Verkauf des Geschäfts mit Spezialchemikalien an die Clariant initiiert.
Während die Verhandlungen mit Monsanto nach einer Zeit im Sande verliefen, ging der Verkauf der Spezialchemikalien inklusive der gesamten internationalen Hoechst-Infrastruktur an Clariant über die Bühne. Indizien deuten übrigens darauf hin, dass Monsanto damals nur Informationen über die Strategie und Positionierung von Hoechst erhalten wollte, aber nie wirklich an einem Zusammenschluss interessiert war.
Letzter Ausweg: Fusion mit Rhône Poulenc zu Aventis
Ohne die Spezialchemikalien und nach der gescheiterten Fusion mit Monsanto war Hoechst aufgrund der Probleme im Pharma-Bereich, aber auch aufgrund der unterkritischen Größe sowohl im Pharma- als auch im Agrar-Geschäft kurzfristig auf einen anderen Partner angewiesen.
Aus diesem Grund wurden dann recht zeitnah Verhandlungen mit dem französischen Konzern Rhône Poulenc aufgenommen. Der Druck auf den Hoechst-Vorstand, den Deal zustande zu bringen, führte am Ende sogar dazu, dass die viel größere Hoechst sich quasi auf einen Merger unter Gleichen einließ, allerdings nicht ohne vorher profitable Geschäftsteile zum Schleuderpreis zu verkaufen. Erst nach Intervention des Staates Kuwait als größtem Hoechst-Aktionär wurden die Eigentumsverhältnisse noch auf 53:47 angepasst und nicht bei 50:50 belassen.
Die neu gegründete Aventis wurde schließlich innerhalb weniger Jahre auf Betreiben der französischen Regierung mit der viel kleineren Sanofi zusammengebracht.
Mein Fazit
Goodbye Hoechst ist zwar ein recht umfangreiches Buch mit ca. 560 Seiten. Es gibt aber so gut wie keinen Spannungsabriss und das Buch ist über die gesamte Länge sehr spannend zu lesen.
Neben der chronologischen Abfolge der Ereignisse, die schlussendlich zum Ende der Hoechst AG führten, enthält das Buch ein ganzes Sammelsurium an Insider-Informationen und Anekdoten, die uns Investoren einen tiefen Blick in die Funktionsweise von Großunternehmen ermöglichen. Für mich ist das Buch deshalb auch eine uneingeschränkte Empfehlung.
Ãœber den Autor
Der Autor von Goodbye Hoechst, Karl-Gerhard Seifert, begann seine berufliche Laufbahn 1973 bei der Hoechst AG in Frankfurt. 1988 wurde er in den Vorstand berufen und verantwortete in dieser Zeit unter anderem die Bereiche Landwirtschaft, Pharma, Kosmetik und Spezialchemikalien (wohlgemerkt nicht alle gleichzeitig). Nach dem Verkauf des Geschäfts mit Spezialchemikalien an Clariant schied Seifert im Jahr 1997 aus dem Hoechst-Vorstand aus und wurde CEO von Clariant. Im Jahr 2001 erwarb Seifert dann mit den ehemaligen Hoechst-/Cassella-Chemiewerken sozusagen einen Teil der ursprünglichen Hoechst AG und revitalisierte das Geschäft unter dem Namen AllessaChemie. Heute ist er nach wie vor Geschäftsführer des Nachfolgeunternehmens Cassella GmbH.