Die Begriffe Nettoverschuldung und / oder Nettofinanzverschuldung spielen bei der Unternehmensbewertung eine nicht ganz unwesentliche Rolle. Der Unternehmenswert beispielsweise, der so genannte Enterprise Value, setzt sich vereinfacht gesprochen zusammen aus dem Eigenkapitalwert (also je nach Sichtweise der Marktkapitalisierung oder dem fairen Wert des Eigenkapitals ermittelt mithilfe eines Bewertungsverfahrens) und der Nettoverschuldung (dem Net Debt).
Die Berechnungsmethodik für die Nettoverschuldung kann dabei je nach Unternehmen, Analyst oder Ratingagentur aber schonmal etwas voneinander abweichen… und deshalb meiner Meinung nach auch zu Verwirrungen oder Fehleinschätzungen führen.
In diesem Artikel möchte ich deshalb einmal etwas detaillierter auf den Begriff der Netto(finanz)verschuldung eingehen. Für konkrete Beispiele schaut euch einmal die folgenden Artikel zur Portfoliobewertung und Nettoverschuldung der Deutsche Konsum REIT sowie zur Berechnungsmethodik Net Debt: Finanzdatenbanken versus DIY Investor an.
Nettoverschuldung, Nettofinanzverschuldung, Netto… was?
Wie bei Finanzkennzahlen oft der Fall, gibt es auch bei der Nettoverschuldung eine gewisse Bandbreite an Berechnungsmöglichkeiten. Darüber hinaus sind verschiedene Begriffe im Umlauf (i.W. die Begriffe Nettoverschuldung und Nettofinanzverschuldung), die fälschlicherweise oft synonym verwendet und als ein und dasselbe betrachtet werden… was sie allerdings nicht sind.
Bevor wir aber im Detail auf Begriffsbestimmungen, -abgrenzungen und Berechnungsmethodiken eingehen, schauen wir uns die aus meiner Sicht wesentlichsten Anwendungsfälle an. Dies sollte uns bereits ein paar erste Rückschlüsse auf die mögliche Berechnung des Net Debt erlauben.
Ganz grundsätzlich sehe ich drei wesentliche Anwendungsbereiche für die Nettoverschuldung / das Net Debt:
- Für die Fähigkeit zur kurzfristigen Schuldentilgung: Ermöglicht eine Aussage darüber, welcher Teil der Schulden quasi direkt mithilfe der (kurzfristig) vorhandenen liquiden Mittel getilgt werden kann
- Für die Berechnung der finanziellen Stabilität: Wesentlicher Input für die Bestimmung des Financial Leverage (Net Debt / EBITDA Ratio) und damit auch ein wichtiger Treiber für das Credit Rating und ggf. die Festlegung der Covenants (und des zu zahlenden Fremdkapitalzinses)
- In der Unternehmensbewertung: Die Differenz zwischen Enterprise Value (Unternehmenswert) und Equity-Value (Eigenkapitalwert)
Jeder dieser Anwendungsfälle erfordert nun ggf. die Betrachtung einer etwas anderen Verschuldungskennzahl… womit wir auch schon bei den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, nämlich Nettoverschuldung und Nettofinanzverschuldung, wären.
Berechnungsoptionen für das Net Debt
Die grundsätzliche Berechnungslogik für Nettoverschuldung und Nettofinanzverschuldung unterschiedet sich im Grunde genommen nicht. In beiden Fällen werden die vorhandenen Schulden mit den vorhandenen liquiden Mitteln (i.W. Cash und Investments) miteinander verrechnet, d.h. es wird eine fiktive Tilgung der Schulden mithilfe der vorhandenen liquiden Mittel unterstellt.
Je nach Anwendungsfall werden allerdings bei der Berechnung sowohl auf der Schulden-, als auch auf der Cash-Seite verschiedene Bilanzpositionen einbezogen oder auch nicht einbezogen.
Gehen wir einmal die oben beschriebenen Anwendungsfälle durch.
Fähigkeit zur kurzfristigen Schuldentilgung -> Nettofinanzverschuldung
Die Möglichkeit der kurzfristigen Schuldentilgung evaluieren wir am besten auf Basis der vorhandenen Finanzschulden (also i.W. der Bank- und Anleiheschulden) sowie der kurzfristig (innerhalb von 90 Tagen?) in Cash umzuwandelnden Vermögenswerte.
(Zur Info: Für die Beurteilung der kurzfristigen Liquidität gibt es noch andere bzw. ggf. auch besser geeignete Kennzahlen, insbesondere Current Ratio und Quick Ratio… eine Gesamtübersicht findet ihr in unserer Ãœbersicht über die wesentlichen Finanzkennzahlen).
Finanzielle Stabilität und Bewertung -> Nettoverschuldung (gleich “Adjusted Debt” der Rating Agenturen)
Für die Abschätzung der finanziellen Stabilität sowie für die Unternehmensbewertung sollte die Berechnung nicht ganz so kurzfristig ausgelegt sein und deshalb ggf. auch die langfristigen Investments umfassen. Darüber hinaus sollten auch alle über die reinen Finanzschulden hinausgehenden explizit oder implizit verzinslichen Schuldenpositionen berücksichtigt werden… welche das sind, darauf kommen wir gleich.
Ein guter Anhaltspunkt für die Berechnungslogik der Nettoverschuldung liefern uns hier die Ratingagenturen (S&P, Moody’s und Co.), die in ihren “Rating Methodologies” relativ detailliert beschreiben, wie sie die so genannten bereinigten Schulden (“Adjusted Debt”) bzw. das Net Debt ermitteln.
Für die Unternehmensbewertung ist außerdem wichtig, dass wir alle Assets und Verbindlichkeiten irgendwo berücksichtigen. Wir sollten nicht den Fehler begehen und z.B. die langfristigen Rückstellungen weder als zinstragende Schulden (meistens sind Rückstellungen de facto zinstragend) noch als Bestandteil des operativen Working Capitals zu berücksichtigen… aber auch dazu gleich noch etwas mehr.
1. Nettofinanzverschuldung bzw. Net Financial Debt (NFD)
Fangen wir mal mit der Berechnungslogik der Nettofinanzverschuldung an. Wenn wir in Geschäftsberichten etwas über die Nettoverschuldung lesen, dann ist damit in der Regel die Nettofinanzverschuldung gemeint…
Die Zielsetzung besteht für die Unternehmen oft darin, zu illustrieren, wie schnell die vorhandenen Schulden mithilfe der kurzfristig verfügbaren liquiden Mittel getilgt werden können. Manchmal wird aber auch der Enterprise Value ermittelt, um eine Indikation bzgl. des Unternehmenswertes zu geben (was allerdings aus meiner Sicht mindestens diskussionswürdig ist).
Für die Berechnung der Nettofinanzverschuldung bzw. des Net Financial Debt (NFD) werden einerseits auf der Schuldenseite die Finanzschulden des Unternehmens angesetzt, andererseits auf der “Cash-Seite” die kurzfristigen liquiden Mittel und ggf. die kurzfristigen Investments berücksichtigt. Die Berechnungsformel sieht also folgendermaßen aus:
Nettofinanzverschuldung = Langfristige Finanzschulden + Kurzfristige Finanzschulden – Barmittel – kurzfristige Investments
bzw.
Net Financial Debt bzw. NFD = Long-term Debt (LTD) + Short-term Debt (STD) – Cash & Cash Equivalents (CCE) – Short-Term Investments
wobei:
- Langfristige Finanzschulden: Langfristige Schulden sind zinstragende Schulden mit einer Fälligkeit von mehr als einem Jahr. Dazu gehören Bankschulden, Anleihen, aktivierte Leasingverträge etc.
- Kurzfristige Finanzschulden: Zinstragende Schulden, die spätestens 12 Monaten fällig werden. Dies können ebenfalls Bankschulden, Anleihen, aktivierte Leasingverträge, Commercial Paper etc. sein
- Cash & Äquivalente: Bargeld und liquide Instrumente, die leicht bzw. schnell in Cash umgewandelt werden können. Zahlungsmitteläquivalente sind z.B. liquide Anlagen mit einer Fälligkeit von 90 Tagen oder weniger und umfassen Einlagenzertifikate, Schatzanweisungen und Handelspapiere
- Kurzfristige Investments: Investments mit Fälligkeiten < 1 Jahr. Dazu gehören z.B. Einlagenzertifikate, Geldmarktkonten, Staatsanleihen, Equities etc.
Die Berechnung folgt also i.W. der gewöhnlichen Aufstellung einer Bilanz, d.h. langfristige Investments werden nicht berücksichtigt, obwohl sie ggf. sehr liquide sein können (Apple beispielsweise hatte Ende 2020 ca. 100 Mrd. USD als langfristige Investments klassifiziert, wobei es sich fast ausschließlich um sehr liquide Staats- oder Unternehmensanleihen handelte… siehe Seite 43 des aktuellen 10-K).
Nettofinanzguthaben bzw. Net Cash Position
Bisher haben wir nur von Nettoverschuldung bzw. Nettofinanzverschuldung gesprochen, was ja impliziert, dass die Schulden größer sind, als die überschüssigen Barmittel und deren Äquivalente.
Natürlich gibt es aber auch den umgekehrten Fall.
Wenn die Finanzverschuldung geringer ausfällt, als der Cashbestand (und das was zusätzlich noch als Cash bzw- Cash-ähnlich angesehen wird), dann spricht man auch von einem so genannten Nettofinanzguthaben bzw. im Englischen von einer Net Cash Position (= einer negativen Nettoverschuldung sozusagen).
Für einige Unternehmen ist das Erreichen eines Nettofinanzguthabens ein strategisches Ziel. Fiat Chrysler beispielsweise hatte das Erreichen einer Net Cash Position für das Industriegeschäft (also die Autoproduktion… es gibt auch noch den Finanzierungsarm) als strategisches Ziel im 5-Jahresplan verankert und in Mitte 2018 tatsächlich auch erreicht (hier das entsprechende Reuters Clipping).
Allerdings kann eine zu geringe Verschuldung auch ein Warnsignal darstellen, weil dadurch insbesondere vorhandene Wachstumsoptionen ggf. nicht voll ausgeschöpft werden können. Das hängt aber neben der spezifischen Situation (Fiat war eher ein Turnaround-Fall) z.B. auch von der Kapitalintensität ab. Öl- und Gasunternehmen beispielsweise benötigen viel Kapital für das Erschließen neuer Felder, Ratingagenturen können quasi ohne CapEx wachsen (siehe auch die Duff & Phelps Fallstudie).
2. Nettoverschuldung bzw. Net Debt
Die Nettoverschuldung – unsere zweite Kennzahl – unterscheidet sich von der Nettofinanzverschuldung im Wesentlichen durch die Berücksichtigung weiterer zinstragender Verbindlichkeiten (und nicht nur der Finanzschulden) sowie ggf. die Berücksichtigung aller liquiden und zugänglichen Investments.
Zinstragende Schulden
In vielen Fällen geht es bei den zusätzlich zu berücksichtigenden Schulden insbesondere um die Pensionsverpflichtungen, die aufgrund der versicherungsmathematischen Berechnungslogik im Grunde ebenfalls als zinstragend angesehen werden müssen… die Rückstellung entspricht vereinfacht gesprochen den mit dem so genannten Pensionszinssatz abgezinsten zukünftig erwarteten Auszahlungen an die Pensionäre / Ruheständler.
Darüber hinaus definiert z.B. Standard & Poor’s aber noch eine ganze Reihe weiterer Anpassungen auf der Schuldenseite (wobei diese allerdings generell nicht ganz so verbreitet sind):
Wie ihr sehen könnt, passt S&P neben den Pensionsverpflichtungen (den Post Retirement Benefits oder PRBs) noch eine ganz Reihe weiterer zinstragender Schulden an. Hervorzuheben sind hier aus meiner Sicht vor allem die folgenden Positionen:
- Leasingverpflichtungen (ggf. allerdings bereits bei der Nettofinanzverschuldung berücksichtigt)
- Asset Retirement Obligations, also z.B. eine Verpflichtung zur späteren Renaturierung eines aktuell noch zu Produktionszwecken genutzten Areals
- Forderungsverkäufe (war ja vor kurzem als “Supply Chain Finance” und in Verbindung mit der Pleite der Greensill Bank relativ prominent in der Presse)
- Earn-Outs, d.h. wenn nach einer Akquisition zukünftig ggf. noch performance-basierte Kaufpreiszahlungen fällig werden
Im Grunde genommen können alle Rückstellungen auf der Bilanz, also Verbindlichkeiten mit einem unsicheren Wert, als zinstragend angesehen werden, weil die Ermittlung typischerweise auf Basis einer Barwertbetrachtung vorgenommen wird… d.h. eine zu einem späteren Zeitpunkt erwartete Auszahlung wird mithilfe eines passenden Zinssatzes auf den heutigen Zeitpunkt übertragen / abgezinst.
Cash und liquide Investments
Die Frage nach der Berücksichtigung von liquiden Mitteln wird von Standard & Poor’s nicht mithilfe einer Einteilung in kurzfristige und langfristige Investments beantwortet, sondern erfolgt stattdessen auf Basis der Liquidität der Investments… d.h. im Umkehrschluss: Auch als langfristige Vermögenswerte klassifizierte Investments können in vielen Fällen zu den liquiden Mitteln hinzugezählt und deshalb bei der Ermittlung des Net Debt berücksichtigt werden.
Eine wesentliche Voraussetzung ist allerdings, dass die Investments für das Unternehmen auch einfach zugänglich sind. Grundsätzlich liquide Investments werden z.B. unter Umständen nicht für die Berechnung des Net Debt herangezogen, wenn sie
- In einer nicht konvertierbaren Währung gehalten werden
- Ausschüttungsbeschränkungen unterliegen (z. B. Barmittel und Anlagen auf Treuhandkonten… es sei denn die Mittel sind zur Tilgung von Schulden vorgesehen, die bei der Berechnung ebenfalls berücksichtigt werden)
- Bei Tochtergesellschaften liegen (S&P ist der Auffassung, dass Barmittel nicht kurzfristig aus Tochtergesellschaften abgezogen werden dürfen, um Schulden an anderer Stelle zu tilgen)
- Zur Begleichung von Ertragsteuern erforderlich sind, die z.B. bei der Rückführung von Barmitteln aus dem Ausland (Apple wäre hierfür ein prominentes Beispiel) oder der Liquidation eines Vermögenswerts anfallen
- Speziell für dritte Parteien wie Regierungen oder Kunden gehalten werden (“Restricted Cash”)
- Dem Risiko von Devisen- oder Kapitalkontrollen unterliegen (in bestimmten Ländern ggf. der Fall)
Die Frage ist nun allerdings trotzdem noch, was “liquide” eigentlich genau bedeutet bzw. ob es da überhaupt einen zeitlichen Aspekt gibt?
Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die Rating-Agenturen im Zweifel selbst zum Verkauf stehende Geschäftsteile als “zukünftige” liquide Mittel anrechnen, wenn es einen klaren Pfad zum Abstoßen der Geschäfte gibt (meist kann das ja sogar innerhalb eines Jahres über die Bühne gehen, sofern es keine größeren kartellrechtlichen Themen gibt).
Aus diesem Grund würde ich für eine Langfristbetrachtung im Normalfall sogar Anteile an assoziierten Unternehmen (At Equity Beteiligungen) oder Joint Ventures als liquide Investments betrachten und in die Berechnung der Nettoverschuldung einbeziehen.
Operating versus Excess Cash
In der Regel wird außerdem ein Teil der verfügbaren Barmittel zur Finanzierung des laufenden Geschäftsbetriebs erforderlich sein und aus diesem Grund nicht für eine möglicherweise erforderliche Schuldentilgung zur Verfügung stehen.
Viele Analysten und Investoren gehen hier als Daumenregel von einem regelmäßigen Cash-Bedarf in Höhe von ca. 2% des Umsatzes aus. Dieses so genannte “Operating Cash” (die betriebliche Kasse) sollte deshalb von den restlichen Barmitteln separat betrachtet und dem Working Capital zugeschlüsselt werden.
Standard & Poor’s vertritt was das angeht allerdings eine andere Meinung: Die S&P-Analysten reduzieren die verfügbaren Barmittel explizit NICHT um die betriebliche Kasse, weil dadurch Unternehmen benachteiligt würden, die sich kurzfristig mithilfe von Cash und nicht über das Ausnutzen ihrer Kreditlinien (“Revolving Credit Facilities“) finanzieren.
Nur wenn ungewöhnlich große Teile von Barmitteln im normalen Geschäftsbetrieb physisch gebunden sind (z.B. Bargeld in Kassen bei einer Supermarktkette), schließt S&P diese von den verfügbaren Barmitteln aus.
Ich denke beide Argumentationen sind grundsätzlich nachvollziehbar. Aufgrund der Schwierigkeit bzgl. der Zuschlüsselung der in Anspruch genommenen Kreditlinien zu einem bestimmten Zweck, gehe ich in meinen Bewertungsmodellen allerdings meist von einem Cash-Bedarf des operativen Geschäfts in Abhängigkeit vom Umsatz aus (2% sofern es keinen besseren Anhaltspunkt gibt).
Berechnung des Net Debt
Die Berechnungsformel für das Net Debt verändert sich also im Vergleich zu derjenigen für die Ermittlung der Nettofinanzverschuldung folgendermaßen:
Nettoverschuldung = Langfristige Finanzschulden + Kurzfristige Finanzschulden + weitere zinstragende Schulden – Ãœberschüssige Barmittel – liquide Investments
bzw.
Net Debt = Long-term Debt (LTD) + Short-term Debt (STD) + Other Interest-Bearing Debt – Excess Cash & Cash Equivalents (CCE) – Liquid Investments
Zusätzlich zu den reinen Finanzschulden werden für die Berechnung des Net Debt also auch die anderen als zinstragend klassifizierten Schulden berücksichtigt. Darüber hinaus werden alle liquiden Investments in die Berechnung einbezogen, und zwar unabhängig davon, ob sie in der Bilanz als kurzfristig oder als langfristig klassifiziert werden.
Exkurs: Berücksichtigung von Rückstellungen und Investments bei der Berechnung des Enterprise Value
Wie bereits erwähnt, ermittelt sich der Unternehmenswert (Enterprise Value) als Summe aus Eigenkapitalwert und Netto(finanz)verschuldung.
Je nach Definition kann der EV also größer oder kleiner ausfallen, wie am folgenden Schaubild deutlich wird:
Ermitteln wir beispielsweise den EV wie hier links zu sehen auf Basis der weiter oben vorgestellten Nettofinanzverschuldung (was ich nicht unbedingt empfehlen würde), dann sollten wir zwei Dinge im Hinterkopf behalten:
- Wir müssen die ggf. vorhandenen langfristigen Investments im Rahmen unserer Bewertung nochmal separat betrachten (heißt später noch zum intrinsischen bzw. fairen Unternehmenswert hinzurechnen)
- Wir nehmen implizit an, dass ggf. vorhandene Rückstellungen analog zu einem passiven Rechnungsabgrenzungsposten als Bestandteil des Working Capital klassifiziert werden
Für die Ermittlung des EV bzw. des Capital Employed (das ist sozusagen der mit dem Buchwert des Eigenkapitals ermittelte EV) ist nämlich das Folgende wichtig: Eine Anpassung auf der einen Seite der Bilanz muss äquivalent auch auf der anderen Seite wirken, damit ein Bilanzausgleich hergestellt werden kann… diese Regel gilt nicht nur für die gewöhnliche Bilanz, sondern genauso auch für die Ermittlung des Capital Employed und des Enterprise Value.
Verrechnen wir also bestimmte langfristige Investments nicht mit den vorhandenen Schulden, dann müssen wir diese konsequenterweise zusätzlich dem Eigenkapital zuschlagen.
Und berücksichtigen wir bestimmte Verbindlichkeiten auf der Passivseite nicht als Schulden, dann müssen wir diese konsequenterweise mit bestimmten Vermögenswerten auf der Aktivseite, genauer gesagt dem Working Capital, verrechnen.
Von der Logik her ist aus meiner Sicht im Einzelfall beides möglich. Bzgl. der Kategorisierung der Verbindlichkeiten ist vor allem wichtig, ob wir diese als verzinslich oder als nicht-verzinslich ansehen und welche Fristigkeit wir unterstellen.
Latente Steuerrückstellungen z.B. können unter Umständen sehr lange bestehen bleiben (bzw. sich erneuern) und wirken deshalb eher wie ein Cash-freisetzender passiver Abgrenzungsposten. Gleiches gilt unter Umständen auch für Asset Retirement Obligations (Rückbauverpflichtungen etc.)
Key Take Aways
Die Begriffe Nettoverschuldung und / oder Nettofinanzverschuldung spielen bei der Unternehmensbewertung und auch bei der Beurteilung der finanziellen Stabilität eine nicht ganz unwesentliche Rolle.
Beide Begriffe werden dabei fälschlicherweise oft synonym verwendet und als ein und dasselbe betrachtet.
Obwohl sich die grundsätzliche Berechnung mehr oder weniger gleicht (Schulden werden mit Cash und anderen liquiden Assets zu einem Nettowert verrechnet), unterscheiden sich Net Debt und Net Financial Debt in den Details substantiell voneinander… und zwar vor allem an zwei Stellen:
- Bei der Berechnung des Net Debt werden nicht nur die Finanzschulden, sondern alle zinstragenden Schulden berücksichtigt (wie z.B. Pensionsverpflichtungen)
- Bei der Berechnung der Nettoverschuldung werden auch langfristige Investments mit den Schulden verrechnet (so lange sie als liquide angesehen werden können)
Wir müssen im Rahmen unserer Unternehmensbewertung zwar meist nicht so genau hinschauen, wie die Ratingagenturen das tun. Alles in allem geben uns die von S&P, Moody’s etc. verwendeten Methodiken zur Ermittlung der Credit Ratings aber schonmal einen sehr guten Anhaltspunkt dafür, wie wir die Nettoverschuldung berechnen bzw. welche Items wir dabei konkret berücksichtigen können bzw. sollten.
Im Zusammenhang mit der Ermittlung des Enterprise Value (bzw. der Ermittlung des Equity Value auf Basis eben jenes Enterprise Value) sollten wir insbesondere die Identität der Vermögens- und der Finanzierungsseite sicherstellen… heißt weder bestimmte Assets (insbesondere langfristige Investments) noch bestimmte Verbindlichkeiten (vor allem relevant sind hier die Rückstellungen) einfach unter den Tisch fallen lassen.
Au diesem Grund gehe ich in der Regel bei der Erstellung einer Finanzplanung von der Nettoverschuldung bzw. dem Net Debt aus, weil ich auf diese Weise im Grunde alle Schulden und Investments bereits entsprechend berücksichtige und nicht so sehr Gefahr laufe, bestimmte Assets bzw. Verbindlichkeiten bei der späteren Bewertung unberücksichtigt zu lassen.
1 Kommentar zu „Netto(finanz)verschuldung: So berechnen wir Net Debt und Net Financial Debt“
Danke für diesen aufschlussreichen Artikel über so ein wichtiges Thema wie Nettofinanzverschuldung.
Der Unterschied zwischen Net Debt und Net Financial Debt scheint mir besonders wichtig zu sein. Ich habe wieder etwas fürs Leben gelernt und wünsche dem DIY Investor weiterhin viel Erfolg!